Kritik an „kultureller Aneignung“

Eine Frage der Machtverhältnisse

32:16 Minuten
Eine weiße Frau fasst sich am Hinterkopf in ihre Dreadlocks.
Kulturelle Aneignung, etwa von Frisuren oder Musiktraditionen kann rassistische und koloniale Ausbeutung reproduzieren - sie kann aber auch emanzipatorisch wirken, sagt Jens Balzer. © Getty Images / iStockphoto / soleg
Jens Balzer im Gespräch mit Catherine Newmark · 21.08.2022
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Vom Hip-Hop über Dreadlocks bis zum jüngsten Winnetou-Film: Wann ist kulturelle Aneignung problematisch? Wann kann sie emanzipatorisch wirken? Der Publizist Jens Balzer wirft einen kühlen Blick auf eine aufgeheizte Debatte.
Darf man sich zum Fasching als „Indianer“ verkleiden? Ist es nicht okay, wenn weiße Musikerinnen Dreadlocks tragen? Und sollte man, wenn sie es doch tun, Konzerte absagen? Diese Fragen werden seit einigen Jahren heiß diskutiert – Stichwort „kulturelle Aneignung“.
Die Fronten sind dabei ziemlich verhärtet, beobachtet der Publizist und Popkritiker Jens Balzer: Während Teile der Linken dazu neigten, pauschale Verbote zu verhängen, reagiere die Gegenseite mit übersteigerter Empörung, die das eigentlich berechtigte Anliegen der Kritik an kultureller Aneignung unsichtbar mache – nämlich den Kampf gegen ungleiche Machtverhältnisse. Klar beruhe jede Kultur immer schon auf Aneignung anderer kultureller Einflüsse, wie häufig betont wird – „aber das heißt nicht, dass es keine Ausbeutungsverhältnisse gibt“.

Zwischen Ausbeutung und Kreativität

In seinem neuen Buch versucht sich Balzer nun an einer „Ethik der Appropriation“ und wirft einen differenzierten Blick auf den Streit um „Aneignung“ und seine Geschichte. Dabei geht es dem Publizisten auch darum, die Ursprünge der Kritik an „kultureller Aneignung“ zu vermitteln. Aber auch, warum sie an vielen Stellen durchaus den Finger auf wunde Punkte legt und uns dabei helfen kann, rassistische Mechanismen zu erkennen – dies aber, ohne dabei eine pauschale Verbotskultur gutzuheißen, wie er sie bei Teilen der Linken beobachtet.
Jens Balzer im Halbrofil, mit Strähne im Gesicht und im schwarzen Rollkragenpulli.
Aneignung ja, aber mit Respekt, fordert der Publizist und Popkritiker Jens Balzer in seiner "Ethik der Appropriation".© IMAGO / Votos-Roland Owsnitzki
Balzer findet es schwierig, aus einem Begriff, der eine ganz spezifische Herkunft hat, „eine Art universelles ethisches Gesetz für das Verhältnis zwischen den Kulturen abzuleiten." Deshalb legt er auch Wert darauf, die kreativen, emanzipatorischen Formen und Potenziale der Aneignung sichtbar zu machen:
„Eigentlich müsste man einen Imperativ formulieren: Appropriiere! Eignet euch an, was euch in die Quere kommt – aber tut es respektvoll. Oder tut es so, dass die unterschiedlichen angeeigneten Kulturen darin sichtbar bleiben und eure Perspektiven darauf deutlich sind, dass ihr verstanden habt, wo das politisch-historisch herkommt.“
Im Gespräch fragen wir Jens Balzer unter anderem, was die Kriterien für „gute“ oder „schlechte“ Aneignung sind – und wie man gute und schlechte Formen der Kritik daran unterscheiden kann. Außerdem erklärt uns der Popkritiker, was das jüngste Beyoncé-Album mit emanzipatorischer Aneignung zu tun hat.
(ch)

Jens Balzer: „Ethik der Appropriation“
Matthes & Seitz, Berlin 2022
87 Seiten, 10 Euro

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