Kommentar

Postkolonialismus ist nicht antisemitisch - im Gegenteil

04:25 Minuten
Portraitfoto von Simoné Goldschmidt-Lechner
Die Abwertung des Postkolonialismus als Ganzes richte sich gegen die Aufarbeitung der eigenen kolonialen und rassistischen Gewaltgeschichte, meint die Autorin Simoné Goldschmidt-Lechner. © Maik Gräf
Ein Kommentar von Simoné Goldschmidt-Lechner · 18.01.2024
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Mit Blick auf Antisemitismus ist Postkolonialismus in Kritik geraten. Die Autorin Simoné Goldschmidt-Lechner verteidigt die Forschungsrichtung. Schließlich gehe es hier um die Überwindung menschenfeindlicher Einstellungen - wie dem Antisemitismus.
Seit dem terroristischen Angriff der Hamas am 7. Oktober werden die "Postcolonial Studies" als Mitverursacher eines ansteigenden Antisemitismus diskreditiert. Postkoloniale Studien, so der Vorwurf, seien im Ansatz zu wenig trennscharf und zu reduktiv. Jüdische Personen würden als weiß und Israelis grundsätzlich als koloniale Besatzer wahrgenommen.
Dies wiederum erlaube, Gewalt gegen jüdische Menschen zu legitimieren. Rechtskonservative Forderungen auf Grundlage dieser Argumentation haben jüngst – vor allem in den USA und Deutschland – zu Preisaussetzungen, Rücktritten und Absagen in Kunst und Wissenschaft, insbesondere von nicht-weißen Menschen, geführt.
In Deutschland dient die Debatte um postkoloniale Studien rechten Gruppen vor allem als Vorwand, populistische Meinungsmache gegen Minderheiten zu betreiben.

Es gibt nicht den einen Postkolonialismus

Die Abwertung des Postkolonialismus als Ganzes richtet sich gegen die Aufarbeitung der eigenen kolonialen und rassistischen Gewaltgeschichte und steht der Entwicklung von Strategien gegen rechtsextreme und menschenfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft im Weg.
Außerdem gibt es nicht etwa den einen Postkolonialismus. Vielmehr versammeln sich unter diesem Überbegriff vielfältige theoretische und sozialpolitische Ansätze. Wer aber auf das Cancelling der angeblich „woken Cancel Culture“ hinauswill, dem nutzt es natürlich, die wissenschaftliche Basis hinter legitimen sozialpolitischen Anliegen pauschal anzugreifen.
Unabhängig von phänotypischen Merkmalen werden jüdische Menschen nach postkolonialem Ansatz übrigens nicht grundsätzlich als weiß gelesen, denn historisch gesehen galten sie eben nicht als weiß, sondern als jüdisch. Außerdem gibt es auch jüdische BIPoC, also Schwarze und Indigene Menschen sowie People of Color, die nicht nur von Antisemitismus, sondern auch von Rassismus betroffen sind.
Die dem Feld postkolonialer Studien zugeordnete "Criticial Race Theory" setzt sich nicht nur mit Rassismus, sondern auch mit dessen Wechselwirkung mit zum Beispiel Antisemitismus und Antislawismus auseinander. Diese werden oft als Unterkategorien von Rassismus verstanden, weisen aber spezielle Merkmale auf.

Überwindung antisemitischer Bilder durch Postkolonialismus

So ist die Besonderheit des Antisemitismus, dass jüdische Menschen gleichzeitig als minderwertig und als mächtige Weltelite begriffen werden. Diese Zuschreibung von Übermacht und Kontrolle ermöglicht dann die Umdeutung jüdischer Opfer als Täter. Postkolonialismus ist unter anderem an der Beschreibung und Überwindung solcher menschenfeindlicher Bilder, die aus Kolonialstrukturen und der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts hervorgegangen sind, interessiert. Dies schließt folglich eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus mit ein.
Natürlich findet eine solche Auseinandersetzung je nach Schwerpunkt nicht in allen postkolonialen Diskursen Raum. Und Postkolonialismus kann, wie jede wissenschaftliche Theorie, für weniger lautere Ziele instrumentalisiert werden. Doch so, wie die Diskussion momentan verläuft, scheinen rechte Akteure durchaus erfolgreich in ihrem Vorhaben, den Diskurs aus postkolonialer Perspektive zu unterbinden. Jetzt schon lehnen wissenschaftliche Journals Publikationen zu diesem Thema rückwirkend ab.

Angriff auf die Solidarität untereinander

Jüdische Personen, rassifizierte Menschen und andere marginalisierte Gruppen leben in Deutschland in zunehmender Angst und Unsicherheit. Die derzeitigen Angriffe auf wissenschaftliche Theorien, die wesentlich zur Ermächtigung dieser Gruppen beitragen, sind letztendlich eine "Divide and Conquer"-Strategie: ein Angriff auf die Solidarität untereinander. Doch diese Solidarität braucht es gerade jetzt mehr denn je.

Simoné Goldschmidt-Lechner ist Autorin, Übersetzerin und Linguistin. Sie beschäftigt sich mit Fankulturen im Netz, Horror aus postmigrantischer Perspektive, Sprache in Videospielen, und gibt Workshops zu Antirassismus und Queerfeminismus. 2022 erschien bei Matthes & Seitz ihr Roman „Messer, Zungen“.

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