Bei Antisemitismus-Verdacht

Lieber einmal mehr innehalten und genau prüfen

05:00 Minuten
Sharon Dodua Otoo, eine britisch-deutsche Schriftstellerin, Publizistin und Aktivistin mit ghanaischen Wurzeln, 2022 beim 10. Literaturfestival LIT:potsdam
Die britisch-deutsche Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Stephanie von Oppen · 30.11.2023
Audio herunterladen
Der Fall der deutsch-britischen Autorin Sharon Dodua Otoo zeige einmal mehr, dass die Stimmung enorm aufgeheizt sei und die Nerven blank lägen, meint Stephanie von Oppen. Reflexartig Antisemitismus zu unterstellen, helfe niemandem.
Und schon wieder steht in der Kunstszene der Verdacht einer Nähe zum BDS im Raum und damit der Vorwurf des Antisemitismus. Diesmal trifft es die deutsch-britische Autorin Sharon Dodua Otoo.
Am Montag wurde ihr der Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum zugesprochen. Daraufhin gibt es einen, ja, reißerischen Artikel auf dem Blog „Ruhrbarone“. Er erhebt den Vorwurf, Dodua Otoo habe Sympathien mit eben diesem BDS. Sie habe auf der Seite artists for palestine.uk einen Aufruf zum Boykott unterschrieben. Der Stadtrat von Bochum beeilt sich daraufhin, eine Stellungnahme zu verfassen, in der versichert wird, dass man in den Texten von Otoo keinerlei Hinweise auf Antisemitismus gefunden hätte. Man wolle nun aber doch prüfen, ob die erhobenen Vorwürfe zuträfen. Wenn ja, wolle man sich dafür einsetzen, dass der Preis, der ausgerechnet nach einem jüdischen Autor benannt ist, nicht an Otoo vergeben wird. Diese Informationen laufen über die Agenturen. Überall wird berichtet – die "FAZ" titelt sogar: „Bochum stoppt Vergabe des Peter-Weiss-Preises“ – soweit war es ja noch gar nicht. Und all das, ohne die Autorin selbst dazu gehört zu haben. Die weilt gerade in Australien.
Mittwochnachmittag erreicht den Stadtrat von Bochum schließlich ein Brief der Autorin. Darin drückt sie all ihre Empathie für die Opfer des Hamas-Massakers aus:

"Ich bedaure zutiefst, dass es uns, die nicht persönlich betroffen sind, nicht gelungen ist, unser Beileid und unsere Solidarität sichtbarer und hörbarer zu machen, dass viele jüdische Menschen auch hier in Deutschland sich alleingelassen fühlen müssen. Es ist eigentlich eine Zeit fürs Innehalten, fürs Zuhören, für Empathie. Darum sollte es gehen.“

Den Boykottaufruf habe sie vor acht Jahren unterschrieben. Und das bedaure sie jetzt sehr. Ihr sei es darum gegangen, schreibt sie, „mich als Individuum solidarisch mit dem gewaltlosen Widerstand Kulturschaffender in Palästina positionieren zu wollen. Diejenigen, die meine künstlerische, kuratorische und aktivistische Arbeit kennen, wissen, dass es mir vor allem darum geht, Worte zu finden, das Gespräch zu suchen, im Dialog zu bleiben.“
Daher distanziere sie sich heute von der damaligen Petition und bemühe sich mit anwaltlicher Unterstützung, ihren Namen von der Liste zu entfernen.
Schließlich erklärt sie, dass sie den Preis der Stadt Bochum nicht annehmen möchte und schlägt vor, das Preisgeld von 15.000 Euro einer gemeinnützigen Organisation zu stiften. Das sind kluge, glaubwürdige Worte, die unsere Anerkennung verdienen. Sie zeigen auch, dass gerade wir als Medien eine Sorgfaltspflicht haben und vielleicht lieber einmal innehalten, bevor wir eine Nachricht verbreiten, die schwerste Vorwürfe erhebt. Dodua Otoo hat den Aufruf zum Boykott vor acht Jahren unterschrieben. Wenn sie sich jetzt, nach allem, was seitdem vorgefallen ist, aus tiefstem Herzen distanziert, dann ist das glaubwürdig.
Erst kürzlich wurde eine Ausstellung der jüdisch-südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz in Saarbrücken abgesagt, weil sie in Bezug auf den Umgang der rechten israelischen Regierung mit den Palästinensern das Wort Apartheid in den Mund genommen hatte. Tatsächlich gibt es in der jüdischen Linken viele, die sogar Verständnis für einige Ziele des BDS haben, solange sie sich ausschließlich gegen die derzeitige Regierungspolitik richten. Und wenn sogar Juden und Jüdinnen wegen ihrer Kritik an der israelischen Regierung Antisemitismus vorgeworfen wird, dann wird es endgültig absurd.
Der Fall erinnert auch an die Debatte um Adania Shibli . Die palästinensische Autorin sollte für ihren Roman „Eine Nebensache“  den Liberatur-Preis bekommen sollte, ein Preis für Autoren des globalen Südens. Der Roman war viel gelobt worden, bis ihr kurz nach dem 7. Oktober in einem Artikel in der "taz" Antisemitismus- und BDS-Vorwürfe gemacht wurden. Der Artikel sorgte für große Aufregung, was dazu führte, dass der Preis zwar nicht entzogen wurde, aber die Preisverleihung nicht wie geplant auf der Buchmesse stattfand. Die Vorwürfe des taz-Journalisten wurden von vielen Seiten überzeugend entkräftet. Mehrere jüdische Autorinnen lasen auf der Buchmesse spontan aus dem Buch Shiblis.
Aber zurück zu Dodua Otoo. Der Fall zeigt einmal mehr, dass die Stimmung enorm aufgeheizt ist und die Nerven blank liegen. Klar sollte uns allen sein: Wer sich wahllos gegen alles richtet, was aus Israel kommt, ist tatsächlich antiisraelisch, wenn nicht sogar antisemitisch. Wenn es um BDS und Solidaritätsbekundungen mit Gaza geht, sollten wir sehr genau hinschauen, wer sich wann und wie äußert. Reflexartig Antisemitismus zu unterstellen, hilft allerdings niemandem. Wenn alles, was im entferntesten als Provokation gelten könnte, vorschnell abgesagt und zum Schweigen gebracht wird, dann hat das fatale Folgen und es wird sehr still und sehr langweilig im Kulturbetrieb. Denn, und mit diesen Worten zitiert Sharon Dodua Otoo in ihrem Schreiben Peter Weiss: Um die Wahrheit zu finden, muss man diskutieren.