Katrin Lange und Nora Zapf: "Screenshots. Literatur im Netz"

Kreatives Schreiben im Digitalen

06:13 Minuten
Screenshot mit HTML-Code in schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund.
Code verbindet eine Seite im Netz mit der anderen. "Class" hat hier keine politische Bedeutung, obwohl Literatur im Netz häufig politisch ist. © Imago/wolterfoto
Von Anne Kohlick  · 07.02.2020
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Was unterscheidet Literatur im Netz von den Texten, die zwischen zwei Buchdeckeln erscheinen? Der Sammelband "Screenshots" gibt Einblicke in digitales Schreiben. Dass Literatur im Internet häufig politisch Position bezieht, ist ein zentraler Aspekt.
"O Server! O Übertragungsprotokoll! O XML-Datei!": Mit einer Anrufung der digitalen Götter in einem Gedicht von Monika Rinck beginnt ein kluger Band über Literatur, die im Internet entsteht. Wie sie sich von Texten unterscheidet, die gedruckt zwischen zwei Buchdeckeln erscheinen - darüber denken die Herausgeberinnen Nora Zapf und Katrin Lange in "Screenshots" nach, gemeinsam mit Literaturwissenschaftlerinnen und Schriftstellern, die Einblicke in ihr digitales Schreiben geben.
Vier wesentliche Punkte thematisiert der Band. Erstens geht es um die Kürze vieler Online-Texte, etwa um die Verwandtschaft zwischen Tweets und Aphorismen. Zweitens um Autorenschaften, die im Netz oft hybrider sind – etwa wenn Kommentatoren sich in sozialen Netzwerken zu Co-Schreibern entwickeln. Gleichzeitig zeigt sich die schreibende Person im Netz oft direkter, persönlicher – mit Profilbild und privaten Fotos neben tagebuchartigen Statusmeldungen.

Ohne redaktionelle Kontrolle

Drittens erzählen im Band Autoren davon, wie sie online verfügbare Daten nutzen, um experimentelle Texte zu erstellen. "Datendada" nennt die Verlegerin Christiane Frohmann so etwas wie die "Erotica"-Gedichte von Hannes Bajohr. Sie basieren auf den deutschsprachigen Einträgen auf literotica.com, einer Website für nutzergenerierte erotische Geschichten. Jeder kann dort schreiben und veröffentlichen, ohne redaktionelle Kontrolle. Worte, die vom Duden abweichen, finden sich deshalb zuhauf - und gerade das fasziniert Bajohr.
Mithilfe eines selbst geschriebenen Programms entfernte der Autor aus den User-Erotika alle orthografisch korrekten Wörter. Ein weiterer Filter ließ nur noch Wörter übrig, die mindestens zwei aufeinanderfolgende gleiche Buchstaben enthalten. Herausgekommen sei eine Liste mit lautmalerischen Fantasie-Begriffen wie "aaaarrggghhh", "uaaahhhh" oder "mpfffffffhhh", beschreibt Bajohr in seinem anschaulich bebilderten Beitrag zu "Screenshots": Worte, die er schließlich zu eigenen Gedichten arrangierte. Ausschnitte daraus kann man im Band selbst lesen, ein Link führt zur 56-seitigen Langversion im Netz.

Sich mit Menschen vernetzen

Dass Online-Literatur häufig politisch Position bezieht, ist der vierte Schwerpunkt des Buches. Ronya Othmann, die den Publikumspreis beim letzten Bachmann-Wettbewerb gewann mit einem Text über den Genozid an den Jesiden, schreibt im Band über #MeTwo. Sie selbst twitterte unter dem Hashtag, der Rassismus-Erfahrungen versammelt: "als Mischling bezeichnet zu werden". Der Vater der 1993 geborenen Münchnerin ist kurdischer Jeside. "Aus dem Schweigen herauszutreten", eine Sprache für Rassismus-Erfahrungen zu finden und sich online mit Menschen zu vernetzen, die Ähnliches erleben, beschreibt sie als "eine Bewegung nach vorn".
Der außergewöhnliche Band basiert auf einer Tagung, die im Dezember 2017 am Literaturhaus München stattfand. Lange und Zapf hatten prominente Netz-Autorinnen wie Stefanie Sargnagel, Blogger und Verlegerinnen eingeladen, ihre Timelines einmal anzuhalten, um "eine Bestandsaufnahme zu machen vom kreativen Schreiben im Digitalen" – daher der Titel "Screenshots". Der vielseitige Band, der erst vor Kurzem erschienen ist, überzeugt mit seiner Mischung aus abgedruckter Online-Literatur und Meta-Texten, die einen neuen Blick auf Schreib- und Leseprozesse im Netz eröffnen.

Katrin Lange & Nora Zapf (Hg.): "Screenshots. Literatur im Netz"
edition text + kritik, München 2019
195 Seiten, 24 Euro.

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