Jeder kann mitmachen!

Von Ulrich Fischer · 15.08.2012
"Fringe" heißt auf Deutsch "Franse" und das Fringe gehört zum International Festival Edinburgh wie die Franse zum Teppich. Die Anziehungskraft ist groß - nicht nur für das Publikum, vor allem junge Leute, sondern auch für Künstler aus aller Welt. Hier darf jeder, der mag, zeigen, was er kann.
Edinburgh halten viele für die schönste Stadt Großbritanniens, die Royal Mile, die königliche Meile, ist die prägnanteste Straße. Sie führt von Hollyrood Palace, dem Palast Königin Elisabeths der Zweiten, im Tal zum Schloss, das stolz auf dem Burgberg über Schottlands Hauptstadt thront. Die letzte halbe Meile zum Schloss ist für den Verkehr gesperrt, hier haben freie Gruppen, Schauspieler, Sängerinnen und Jongleure Platz, um für ihre Produktionen zu werben:

Fred, 19, ist in Maske und Kostüm, er weist auf Shakespeares "Sturm" hin, der Flaneur bekommt ein Flugblatt, damit er ja Auftrittsort und -termin nicht vergisst:

Der Sturm als "Familienstück", die Company tritt auch im Gefängnis auf und in Obdachlosenheimen, sammelt Geld für soziale Einrichtungen. Derweil spielt 70 Yards weiter Joan aus den Vereinigte Staaten ihre Gitarre, mit 17 Jahren wohl eine der Jüngsten, und singt selbst gedichtete und -komponierte Lieder. Eisern hält sie durch, zart wie ein Schmetterling, und lächelt wie ein Profi. Wer sich im eisigen Sturm des Wettbewerbs behaupten will, muss sich stählen. Im Hintergrund baut Fred aus Australien alles auf, was er für seine Straßenkunst braucht, er hat ein batteriebetriebenes Mikro, um sich verständlich zu machen:

Auf der Royal Mile hat auch das Fringe sein Hauptquartier, hinter einem Laden mit Souvenirs verstecken sich die bescheidenen Büros der Organisatoren. An ihrer Spitze steht Kath Mainland. Die energische Managerin sichert mit den ehernen Prinzipien des Festivals die Freiheit des Fringe:

"Das Edinburger Fringe Festival ist das größte Kunstfestival der Welt. Der Zugang ist völlig frei. Das Hauptprinzip des Fringe ist, dass jeder, der mitmachen will, mitmachen kann. Jeder kann machen, was er will."

Comedy ist in Edinburgh stark vertreten, im Publikum sitzen immer wieder Scouts, Talentsucher für Funk und Fernsehen - wer in Edinburgh auffällt, wer beim Fringe einen der begehrten Preise absahnt, kann auf einen lukrativen Vertrag hoffen. Hier überlagern sich Kunst und Kommerz. Um aufzufallen, investieren viele Künstler und mieten teure Podien - so wird die Freiheit des Fringe eingeschränkt. Wer Kohle hat, bekommt bessere Auftrittsmöglichkeiten - eine Krise, die schon lange im Fringe schwelt.

Wer sich für das zeitgenössische englischsprachige Drama interessiert, findet seit Jahren zuverlässig eine gute Adresse im Traverse Theatre, der Schaubühne Schottlands. Hamish Pirie, Regisseur und Mitglied im Leitungsteam erläutert:


"Das Traverse arbeitet gewissermaßen zwischen dem Fringe und dem International Festival. Das Traverse ist Schottlands Theater für zeitgenössische Stücke. In diesem Jahr hat es zum Beispiel viele intime Stücke gegeben. Wir reflektieren das auch in unserm Programm. Intimität zwischen Menschen, ganz einfache Geschichten, wahrhaftig erzählt."

Ein gutes Beispiel dafür ist "And No More Shall We Part" - vielleicht am besten auf Deutsch zu übersetzen mit: "Wir wollen nie mehr auseinandergeh‘n" - von Tom Holloway:

James MacDonald hat das Gastspiel des Hampstead Theatres aus London inszeniert - ein Stück über Alter und Tod. Ein Paar altert gemeinsam und gemeinsam tragen sie die Last, dass "sie" schwer krank ist. Die Handlung setzt ein, als sie erfährt, dass eine weitere Behandlung nicht sinnvoll ist - der Tod klopft an die Tür. Sie will ihrem Leben ein Ende machen, um das Leiden abzukürzen. Er gibt ihrem Wunsch erst nach leidenschaftlichem, lang anhaltendem Widerstand nach. Das Stück zeigt anrührend, welche Vorbereitungen und welche Entscheidungen zu treffen sind, bevor sie ihre Tabletten in tödlicher Mixtur schluckt.

Theater muss nicht immer avantgardistisch sein und neue Formen erproben, wenn das Sujet wichtig ist.

Die freien Gruppen, die im Traverse auftreten, präsentieren armes Theater - die Bühnenbilder sind aufs Wesentlichste beschränkt, die Stärke liegt in einer Regie, die sich fast unsichtbar macht im Dienst des Stücks, des Autors, des Ensembles und des Publikums, und in Schauspielern, die die Fantasie der Zuschauer entzünden. Iain Robertson gelingt das in "Angels" -"Engel" - von Ronan O'Donnell:

"Angels" ist eine Studie über die Angst. Ein einfacher Mann - er spricht mit stark schottischem Akzent - ist aufgewühlt. Er erzählt dem Publikum von einem Verhör. Es ist eine schon kafkaeske Situation: Er weiß nicht, wessen er beschuldigt wird - ein Stück mit irischen Ängsten vor der englischen Polizei - die sich immer wieder Übergriffe hat zu Schulden kommen lassen.

Der Zuschauer hat die Qual der Wahl bei diesem weltgrößten Festival der Freien Gruppen, aber die Vielfalt ist auf jeden Fall eine Stärke. Das Publikum profitiert vom Gegen- und Miteinander des International und des Fringe Festivals. Das ist in Europa einmalig, das gibt es weder in Avignon, noch bei der Ruhrtriennale oder gar in Salzburg.

Das Fringe wirbt mit dem selbstironischen Slogan, es sei nicht das "gratest, but the greatestest", also nicht das größte, sondern das Größteste. Es ist auch das Besteste.
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