Frühstückstheater mit schottischen Würstchen

Von Ulrich Fischer · 20.08.2009
Beim Fringe Festival, dem weltweit größten Festival der Künste, wird das schottische Edingburgh zur Bühne für Theater, Musicals, Comedy, Tanz und vieles mehr.
"The bestest", so wirbt das Fringe Festival für sich. Nicht das beste, das besteste. Vielleicht sogar das größteste. Die diesjährige Edition begann am 7. August in Edinburgh. Der 7. August ist eine Spitze gegen das International Festival, den großen ungeliebten Bruder des Fringe - der erst etwa eine Woche später die Pforten öffnete. Damit das renommierte International nicht die ganze Medienaufmerksamkeit absahnt, fängt das Fringe einfach acht Tage früher an. Fringe heißt übrigens "Franse", das Fringe gehört zum International wie die Franse zum Teppich.

Das Fringe ist aus dem Geist der Opposition geboren. Als 1947 in Edinburgh ein elitäres Festival gegründet wurde, ärgerten sich nicht nur schottische Künstler, die nicht eingeladen wurden, sie handelten auch und gründeten das Fringe. Dort muss niemand auf eine Einladung warten, dort darf jeder zeigen, was er kann. Im letzten Jahr - die Zahlen dieser Saison sind noch nicht verfügbar - wurden über 2000 verschiedene Aufführungen gezeigt, 31.000 Künstler traten auf und gespielt wurde, wo es möglich ist und wo es unmöglich ist auch - 250 Spielstätten wurden gezählt und fast 1000 Berichterstatter reisten in die schottische Hauptstadt.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich in dieser Überfülle zu orientieren. Man kann sich treiben lassen. In der Innenstadt und im Univiertel kommt der Flaneur an vielen Gebäuden vorbei, die auf die Spielstätte ("Venue") im Inneren hinweisen. Wenn man Glück hat, findet der Suchende, was er schon immer im tiefsten Innersten gesucht hat oder den Shakespeare von morgen – oder einfach nur Spaß. – Man kann aber auch planen: es gibt ein dickes Programmheft und täglich einen Überblick, was heute läuft. Dort kann man wählen, ob man ein Musical sehen möchte, ein Kinderstück oder Comedy. – Oder man hat sich für etwas entschieden und weiß, in welchem Zentrum es gespielt wird. Das Traverse Theatre zum Beispiel ist eine gute Adresse für zeitgenössisches englischsprachiges Theater. Wer wissen will, was die jungen schottischen Dramatiker heute schreiben, kommt nicht am Traverse - in Schottland heute, was die Schaubühne in Berlin früher mal für Deutschland war - vorbei.

Schon um 9 Uhr früh geht’s los: Frühstückstheater. Besser als die im Kartenpreis inbegriffenen schottischen Würstchen auf Labberbrötchen mit Tee ist Enda Walshs Exposition für ein neues Stück – "Eine Unterhaltung mit meinem Nachbarn Henry". Henry und Enda treffen sich zum Frühstück. Sie wollen verhandeln. Erst langsam schält sich der Konflikt heraus, den sie beilegen wollen. Henry hat mit seiner Frau ein Töchterchen, sie ist erst vier. Henry liebt sie mit allen Fasern seines Vaterherzens. Jetzt ist das Töchterchen bei Enda – mit Henrys Frau. Sie hat Henry verlassen. Der Vater fordert seine Tochter zurück – ein unlösbarer, herzzerreißender Konflikt. Zwei Stühle, ein Tisch und ein Radiorecorder, aus dem Beethovens "Ode an die Freude" klingt – das reicht als Bühnenbild. Zwei Schauspieler, die den Text vor sich haben als Gedächtnisstütze, aber die Skizze ist großartig. Ein Fragment oder der erste Akt. Toll.

Genauso großartig: "A Life in Three Acts" ("Ein Leben in drei Akten") von Mark Ravenhill und Bette Bourne. Bette Bourne ist ein Transvestit; Mark Ravenhill, weltberühmt geworden mit "Shoppen und ficken", hat mit ihm/ihr geredet, die Gespräche aufgezeichnet, ediert – und ein Stück daraus gemacht, in dem sie mit ihm auftritt. Dadurch bekommt die Lebensgeschichte eine unübertreffliche Authentizität. Bette erzählt aus ihrer Kindheit und Jugend. Ihr Vater wollte so wenig wie die Mutter, dass ihr Junge schwul ist, Konflikte waren programmiert. Bette, eine reizende Dame, der ihre Jahre gut stehen und die etwas von Kleidung versteht, erzählt vom Sex so ungeniert und offen, dass es eine Lust ist. Es wird viel gelacht – aber hinter dieser Freiheit steht ein langes Leid und viel Erfahrung, die erst gesammelt sein will. Ein tolles Stück, eine geglückte Aufführung – und Bette ist Spitze. Den Durchbruch zu sich selbst hat sie wohl erst geschafft, als sie mit vielen anderen gegen die Diskriminierung der Schwulen kämpfte - mit Erfolg. Wenn es eine emanzipierte Frau gibt, dann bestimmt Bette.

David Greig, auch bei uns schon bekannt, hat mit Gordon McIntyre ein Stück mit Gesang geschrieben: "Midsummer" – aber keinen "Mittsommernachtstraum". Sondern eine Abrechnung mit der Liebe in Zeiten des Neoliberalismus, des Leistungswahns und der Coolness-Anbetung. Starke Szenen, viel Humor – vielleicht ein bisschen zu lang, aber die Anforderungen an die beiden Schauspieler sind hoch: sie müssen nicht nur gut spielen, sie müssen auch singen und sich selbst mit der Gitarre begleiten können.

Elaine Murphy darf nicht vergessen werden, eine Dramatiker-Debütantin aus Dublin, von Haus aus Schauspielerin. Das merkt man: sie hat drei wundervolle Frauenporträts geschrieben - Großmutter, Mutter und Tochter. Es ist ein Kreuz mit der Sexualität. Am stärksten sind die Bekenntnisse der Oma, der ihre Ärztin, weil Opa krank ist, einen Vibrator verschreibt. In einem puritanischen oder erzkatholischen (Schott-, Ir-)Land hat die Bühne als öffentlicher Ort eine große Verantwortung, über das zu sprechen, was sonst totgeschwiegen wird.

Die Anziehungskraft des Fringe ist enorm, vor allem auf junge Leute - mehr als eineinviertel Millionen Karten wurden im letzten Jahr verkauft - und die Hotels und Restaurants erhöhen die Preise auf Raffzahnniveau.

Das Fringe bringt viel Zweit- und Drittklassiges, Gutgemeintes, aber in Sternsekunden überstrahlt es den großen Bruder. Sarah Kanes "Crave" ("Gier") wurde im Fringe uraufgeführt - Sarah hätte nie gestattet, dass ihr Stück im International gezeigt würde. Diese Art Kunst machte sie verantwortlich für jenen Verblendungszusammenhang, den sie beklagt und bekriegt. Eine Inszenierung ohne jeden Flitter, puritanisch nüchtern - großes Welttheater, ein Ruhmesblatt des Fringe.

Früher beharkten sich die beiden Brüder, inzwischen haben sie erkannt, dass der Gegensatz fruchtbar ist, weil er eine Dynamik in Gang setzt, die allen dient: die Arrivierten bekommen frisches Blut und neue Ideen, die Jungen können von der Erfahrung der Alten lernen und von der beinharten, kompromisslosen Forderung nach Qualität, Qualität, Qualität! In diesem Jahr kommt es sogar zu einer Zusammenarbeit: beide Festivals produzieren eine Uraufführung: "The Last Witch" ("Die letzte Hexe" von Rona Munro") über den letzten schottischen Hexenprozess in Schottland 1727.

Das Fringe ist viel zu heterogen, als dass es sich unter ein Thema subsumieren ließe. Die Tendenz geht, wie im Film, wie in der bildenden Kunst weltweit, hin zu engagiertem Theater, die Revitalisierung des politischen Theaters ist manifest.

Ob das Fringe dieses Jahr wieder dem International die Krone rauben wird? Sehr wahrscheinlich. Der hoch verdiente Leiter des International, Brian McMaster, hat sich vor drei Jahren verabschiedet, der neue, Jonathan Mills, ein Komponist aus Australien, hat ein eher mageres, aber ziemlich schrilles Programm zusammengestellt. Er muss sparen und lädt Drittklassiges ein wie einen "Faust" nach Goethe, Regie Silviu Purcarete. Der arbeitet mit Zirkuselementen – das Feuerwerk soll wohl über den Mangel an Substanz hinwegtäuschen.

Mills war bei der Premiere und machte seinen Kratzfuß vor Edinburghs Oberbürgermeister – das wirkte devot. Mills scheint ein Neoliberaler. Die geben Qualität bedenkenlos preis, weil sie die große Menge verachten – sie denken, die meisten merken es ja doch nicht. Und da kann man sparen.

Das Fringe ist in der Krise, die Festivals in Edinburgh überhaupt – sie beklagen sich, dass die Politik sie vernachlässige. Zu Recht. Zumal die Festivals Touristen in die Stadt ziehen, über 150 Millionen Pfund sollen mehr ins Stadtsäckel fließen, weil Menschen aus aller Welt Edinburgh im August, die Festivals in Britanniens schönster Stadt, sehen wollen. Da sollte doch dann auch Geld da sein, um anständige Spielstätten zu erschwinglichen Preisen für die Musenjünger zur Verfügung zu stellen – sonst schlachten die Edinburgher die Kuh, die sie melken wollen.

Die Qualität der Aufführungen im Traverse ist höher als die der schottischen Kulturpolitik.

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