Radikal persönlich

Von Stefan Keim · 01.06.2010
Das Fringe-Festival soll so etwas wie die anarchische Frischzellentherapie für die Ruhrfestspiele sein. Es geht um Terrorismus, Vergangenheitsbewältigung und Sinnsuche.
"Wir sind die Generation, die alles kann. Alles sagen, alles machen, alles sein. Alles sein lassen. Wir sind der Abschaum, der oben schwimmt."

Selbsterkenntnis ist der Weg zum Terrorismus. Zumindest für die junge Frau, deren Leben nur aus Luxus und Langeweile besteht. Frieden, Freiheit und Wohlstand haben eine innere Leere hervorgebracht, die in pure Wut umschlägt. In Thea Dorns Einakter "Bombsong" spricht eine Selbstmordattentäterin. Der Text entstand direkt nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und zeigt, wie Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft heraus entsteht.

Die Protagonistin hat alles, nur keinen Sinn für ihr Leben. Sie träumt davon, eine "Jungfrau von Orléans" zu sein, eine göttliche Mission zu haben, sich für etwas Großes opfern zu dürfen.

"Diese Welt wird in die Luft fliegen. Diese Welt hat ein Ticket zum Mars gebucht und keins zurück. Hin, hin, hin, nichts wie hin. Mittags ist eine gute Zeit. Diese Welt wird dieser Welt so um die Ohren fliegen, dass kein Schwanzwedeln mehr hilft."

Die Gruppe Maskenada/Theatre d´Esch aus Luxemburg reichert den Text mit viel Musik, häufig wechselnden Lichtstimmungen und assoziativen Videobildern an. Trotzdem bleibt die Schauspielerin im Zentrum der Aufführung, die kraftvolle Sascha Ley. Sie zeigt eine Frau, die alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit kappt.

Die Bombe verbirgt sie in einem roten Koffer, in dem sie als kleines Mädchen immer eine Notration aufbewahrte, falls sie mal schnell verreisen müsste. Mit dem Koffer jagt sie auch ihre Kindheit in die Luft.

Erinnerungen an die Jugend, der Umgang mit der eigenen Geschichte – das ist das Thema sehr vieler Aufführungen im Fringe-Festival der Ruhrfestspiele. Die Engländerin Christine Fredricksson umkreist in ihrem Stück "Everything must go" die ungewöhnliche Persönlichkeit ihres kürzlich verstorbenen Vaters. Dieser Mann war Hürdenläufer, Tänzer, Komiker und Travestiekünstler.

Seine Tipps, wie man sich fast ohne Geld durchs Leben schlagen kann, sind skurril und passen doch perfekt ins Hartz-IV-Zeitalter. Christine Fredricksson lässt Filmaufnahmen ihres Vaters laufen und verwandelt sich mit Schminke und alten Kleidern in Papas Ebenbild.

Sie will mit ihm verschmelzen, etwas von ihm konservieren, seinen Blick auf die Welt verstehen. Eine "Arbeit der Liebe" nennt die Schauspielerin ihren radikal persönlichen Abend, der eine große Zärtlichkeit ausstrahlt.

Was ist Jugend? Wann hört sie auf, wann ist man erwachsen? Diesen Fragen spürt das Tanssiteatteri MD aus Finnland nach. Erst bewegen sich die Tänzer parallel, bilden eine Einheit. Doch die Sicherheit des Miteinanders ist schnell vorbei. Sie stehen vor dem Publikum und sprechen durcheinander.

Die Choreografin Mari Rosendahl hat in ihr Stück "Rafael" viele persönliche Erlebnisse und Erzählungen der vier Tänzer eingebaut. Jugendträume und Ängste wechseln sich ab. Das Ensemble verwandelt sich in die Popgruppe Abba und singt "Take a chance on me". Und es zeigt die erstarrten Eltern, die sich ein Tennisspiel anschauen. Sonst läuft nichts mehr zwischen ihnen.

Es gibt einige ungewöhnliche Tanztheaterstücke beim Fringe Festival. Ein Höhepunkt ist das Solo "Fill it up – Bitte volltanken" von Jean-Guillaume Weis. Der Tänzer und Choreograf hat jahrelang mit Pina Bausch und anderen Größen des Tanztheaters zusammengearbeitet. Bis er ausbrach und seinen eigenen Weg ging.

Weis tanzt mit hinreißender Selbstironie, bricht manche akrobatischen Bewegungsfolgen scheinbar erschöpft ab, fasst sich an den Bauch und knetet sich die Fettpolster. Er parodiert alle gängigen Tanzstile. Voller Spaß, aber immer wieder beschleicht ihn die Einsicht, dass er nicht weiterkommt. "Fill it up" ist die Geschichte einer tänzerischen Sinnsuche, melancholisch grundiert, aber mit grimmigem Humor und scharfem Witz.

""And this is me how I sometimes feel now ...”"

Direkt vor der ersten Publikumsreihe springt Weis in einen Koffer voller Granulat und hüpft darin herum. Ein Bild der Verzweiflung und gleichzeitig eine Parodie auf ästhetische Moden des heutigen Tanztheaters. Auch diese Aufführung ist radikal persönlich, ein Künstler zeigt seinen Erkenntnisstand, stellt Fragen, lässt sie unbeantwortet. Und – das ist das Wichtigste – er leidet daran nicht gar so erschröcklich.

Man geht zwar mit dem Gefühl aus dem Theaterzelt, den Sinn des Lebens wieder nicht ergründet zu haben. Aber so schlimm ist das alles nicht, ein Versuch war's wert, jetzt gibt's erst mal ein Bier am Getränkestand, und dann kommt das nächste Stück. Bis zu fünf Aufführungen laufen an einem Tag beim Fringe Festival, drei davon können sich die Zuschauer hintereinander anschauen.

Neben Tanz und Schauspiel gibt es prominent besetzte Chansonabende von Eva Mattes und Burghart Klaußner. Und auch mal pure Unterhaltung mit hoher Qualität. Der Renner der ersten Fringe-Woche war die Musik-Comedy-Show "Fhlip Flhop – Everything happens on the break".

Kreiert haben sie zwei Engländer, die Rannel Theater Company. Unter ihrer Anleitung hat das Berliner Mogul Theater eine deutsche Fassung erarbeitet, mit den grandiosen Darstellern Ernest Allan Hausmann und Eugene Boateng. Sie beherrschen das Tanzen, Singen und Spielen ebenso gut wie das Beatboxing.

"Flhip Flhop" ist kraftvolles Hip-Hop-Theater über zwei Freunde, die an einem Abend alles falsch machen. Sie mixen reales Leben und Elemente der Popkultur wie DJs, parodieren asiatisches Kampfkunstkino und die Clubszene, träumen, spinnen, fantasieren. Auch sie suchen nach dem Sinn und nach ihrem Ich.

Illusionen zerplatzen, sie brechen zusammen, stehen wieder auf, lachen, geraten in die nächste groteske Situation. Lange hat es nicht mehr so viel Spaß gemacht, Menschen beim Scheitern zuzusehen wie im Fringe-Festival der Ruhrfestspiele. Weil die überwältigende Vitalität der Aufführungen jeden Ansatz von Selbstmitleid zerbröseln lässt. Jammern gilt nicht, es geht weiter.