Die Fransen des Kunstbetriebs

Von Ulrich Fischer · 23.08.2010
Comedy, Musical oder Drama? Jeder Künstler, der will, kann beim Fringe Festival auftreten und zeigen, was er will. Ein erzdemokratischer Gedanke. Und der sorgt dafür, dass auch in diesem Jahr wieder viele Hoffnungsvolle ins schottische Edinburgh pilgern.
Die Anziehungskraft des Fringe Festivals in Edinburgh ist ungebrochen. Ja, sie steigt offenbar stetig. Im letzten Jahr wurden 18.901 darstellende Künstler gezählt, die in Schottlands schöne Hauptstadt strömten, um ihre neuen Kreationen zu zeigen, in diesem Jahr sind es 21.148, über den Daumen. 2098 Shows gab es im letzten Jahr. "Nur" - in Anführungsstreichen -, dieses Jahr sollen es etwa 400 mehr werden.

Alle kommen natürlich, weil die anderen auch kommen und weil sie sich Publikum erhoffen. Vor allem junge Leute wollen ins Fringe. Andererseits gibt es auch viele Scouts, Talentsucher, die für's Fernsehen, das Radio oder Verlage arbeiten. Viele hoffen, das Fringe sei ein Sprungbrett. Alice Jones schreibt im "Independent": "Today Edinburgh. Tomorrow the world.” – "Heute Edinburgh, morgen die Welt.” Und für einige stimmt das: Sarah Kane zum Beispiel, oder Tom Stoppard, der inzwischen zum Ritter geschlagen wurde und dessen Stücke das Royal National Theatre in London uraufführt.

Aber das ist nicht der Hauptgrund. Der liegt in der Geschichte beschlossen. Als 1947 das International Edinburgh Festival aus der Taufe gehoben wurde, hofften viele schottische Künstler, eingeladen zu werden. Vergebens. Das "International" erwies sich umgehend als elitäre Veranstaltung. Wie in Salzburg wurde die Crème de la Crème eingeladen, die anderen blieben ausgeschlossen.

Das ließen sich einige Künstler nicht gefallen – sie gründeten ein Gegenfestival, eben das Fringe. "Fringe" bedeutet "Franse" und die Franse gehört zum Teppich wie das Fringe zum International.

Der Grundgedanke des Fringe wird bis heute durchgehalten: Jeder, der will, kann auftreten und zeigen, was er will. Ein erzdemokratischer Gedanke. Und der sorgt dafür, dass so viele Hoffnungsvolle nach Edinburgh pilgern.

Es gibt auch bei uns "Fringe"-Festivals, zum Beispiel im Rahmen der Ruhrfestspiele in Recklinghausen. Aber das ist kein richtiges Fringe. Vielmehr lädt der Festivalleiter Produktionen ein, die er auswählt. Produktionen Freier Gruppen, die vielleicht in Edinburgh oder anderswo aufgefallen sind. Aber der Grundgedanke ist verfälscht – eben kein Direktor, dessen Geschmack den Tyrannenstab schwingt.

Das Programmheft des Fringe umfasst im großen Format weit über 200 Seiten – der Zuschauer droht in der Informations- und Angebotsflut unterzugehen. Aber man kann im Ozean schwimmen. Zum Beispiel indem man sich fragt, was einen besonders interessiert. Zum Beispiel Musical? Da wird die Auswahl schon sehr viel übersichtlicher. Oder Comedy? Es gibt bestimmte Orte, wo die besten Comedians auftreten, dort kann man weitersehen – und die Zeitung lesen. Alle veröffentlichen Kurzkritiken, mein Leib- und Magenblatt ist der "Guardian". Die meisten Hinweise sind verlässlich.

Wenn Sie sich besonders für das zeitgenössische junge englischsprachige Drama interessieren, ist das Traverse Theatre eine gute Adresse. Es macht ein eigenes kleines Unterfestival im Fringe und hat eine ausgezeichnete Dramaturgie, die einlädt, was sich zu sehen lohnt. Zum Beispiel "Freefall" von Michael West.

"Freefall" ("Freier Fall") ist ein Stück über das Sterben. Die Szenen beginnen mit einem Herzanfall des Protagonisten und enden damit, das endgültig klar wird: dieser Anfall endet tödlich. West versucht sich in surrealen Bildern und stellt fest, wie köstlich jede Sekunde des Lebens ist und wie wir es im Alltag vergeuden.

"Speechless" ("Sprachlos") von Linda Brogan und Polly Teale ist politsicher. Zwillinge im Teenager-Alter weigern sich zu sprechen, weil sie in der Schule diskriminiert werden – sie haben die falsche Hautfarbe. Der Rassismus in Britannien erscheint hier besonders infam, weil die Schuld an der Ausgrenzung den Ausgegrenzten zugeschoben wird. Herzzerreißend!

"My Romantic History" ist alles andere als romantisch, aber eine Liebegeschichte ist es doch. Tom und Amy lernen, dass Liebe wenig mit Geschichten aus Hochglanzillustrierten zu tun hat und mehr mit der gemeinsamen Bewältigung des Alltags, mit der Bereitschaft, Verantwortung für einander zu übernehmen. Pfeffer bekommt das Stück wegen der heftigen und triftigen Ausfälle des brillanten Autors D. C. Jackson gegen die Partygesellschaft und den Neoliberalismus – die Pointen kommen im Minutenabstand. Es wurde viel gelacht im Travers.

Aber den Vogel schoss doch "While You Lie" von Sam Holcroft ab. Die erste Szene ist eine musterhaft gebaute Exposition: Ana kann sich nicht entscheiden, ob sie das rote oder das schwarze Kleid anziehen soll. Sie will mit Edward, ihrem Freund, ausgehen. Edwards Geduld wird strapaziert und schließlich sagt er ihr ins Gesicht, sie solle mit ihrer Gefallsucht, ihren Versuchen, Eindruck zu schinden, aufhören. Ana ist Sekretärin, aber sie möchte gern etwas anderes sein, mehr. Die beiden streiten, gehen auseinander.

Ana kommt aus dem Ausland, sie hat studiert und will was Besseres werden. Sie geht mit ihren Wünschen dem Chef auf die Nerven, bis sie ihm sexuelle Dienste anbietet, damit auch er ihr entgegenkommt.

Der Chef entwickelt erst eigentümliche, dann sadistische, schließlich masochistische Fantasien. Die Gesellschaftsordnung mit ihrem Oben und Unten begünstigt sexuelle Perversionen, will Sam Holcroft mutmaßlich sagen. Die Konflikte spitzen sich zu, auch der Chef bekommt Krach mit seiner Frau. Die Komödie verdichtet sich zur Farce, als Ike dazukommt, eine periphere Figur, aber die beste des Stücks. Er sammelt Spenden – für die Opfer von Krieg und Gewalt.

Eine mephistophelische Figur, denn er will ganz offenbar selbst mit der Hilfs- und Spendenbereitschaft seiner Zeitgenossen Geld machen und bietet allen Leuten, die er trifft, Hilfe an, "Heilung". Und alle verlangen danach. Ike macht fette Beute – diese Gesellschaft produziert massenweise Leute, die innerlich unsicher sind, nicht wissen, ob sie das rote oder das schwarze Kleid anziehen sollen, weil sie den anderen imponieren wollen. Alle tragen Masken.

Gott sei Dank erkennt unser Liebespaar vom Anfang das noch rechtzeitig und der Chef und seine Frau werden in einer grotesken Vorschluss-Szene noch Eltern eines strammen Jungen.

Ein Lehrstück, eine Farce, ein großes Vergnügen und Gesellschaftskritik pur gegen den vom Neoliberalismus gespeisten Hedonismus und die Karrieregier von heute. Viel Beifall im Traverse 2, der Studiobühne, den vor allem die Schauspieler, die zeigen konnten, was sie können, verdient haben.

Das Programm im Traverse kann sich sehen lassen und besteht im Vergleich mit dem renommierteren International gut. Ein Talent wie Sarah Kane wurde in dieser Spielzeit allerdings bislang nicht gesichtet. Aber sie war ja auch eine Jahrhundertbegabung.

Homepage des Fringe Festivals