Tränen der Influencer

Gefühle aus der Tabuzone holen

Eine junge Frau schaut traurig, Wasser rinnt über ihr Gesicht.
Trauer gehört zum Leben dazu: Auch Influencer zeigen bisweilen ihre verletzliche Seite. (Symbolbild) © imago / ingimage
Gedanken von Katharina Herrmann · 27.06.2023
Auf TikTok zeigen Influencer*innen oft auch ihre emotionalen Tiefpunkte. Selbst, wenn das manchmal inszeniert sein mag: Es kann dabei helfen, dass wir offener über unsere Gefühle und Emotionen sprechen, findet Literaturbloggerin Katharina Herrmann.
Für gewöhnlich sehen die knapp drei Millionen TikTok-Follower von Dani Klieber, wie sich die Abiturientin auf ihre Prüfungen vorbereitet, Outfits anprobiert, Freunde trifft. Plötzlich dazwischen stehen Videos, in denen sie traurig im Bett liegt, über ihrem Kopf der Schriftzug: „Wie kann es sein, dass ich am Tag der glücklichste Mensch der Welt bin, und sobald es Nacht wird, mich allein fühl?“
Ein paar Videos weiter das Profil von Twenty4Tim – knapp fünf Millionen sehen dem Influencer und Sänger zu, wie er Frisuren verändert, Musikvideos filmt, Witze macht. Dazwischen plötzlich ein Video, das den 23-Jährigen weinend zeigt, über seinem Kopf der Schriftzug: „Kennt ihr das, wenn ihr weint und nach außen stark wirken wollt?“

Influencer als nahbare Menschen, keine Superhelden

Die sozialen Netzwerke sind voller solcher Bilder, Texte und Videos, mit denen Influencer eben nicht nur zeigen, wie toll ihr Leben ist, sondern auch, wie schlecht es ihnen manchmal geht. All das lässt sich ökonomisch erklären: Influencer bauen sich ihre Communitys auf, indem sie als Menschen nahbar wirken. Ihre Währung ist nicht Bewunderung, sondern Authentizität, ein Konzept, das maßgeblich auf das Zeitalter der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert zurückgeht.
Menschen folgen Influencern, weil sie den Eindruck haben, dort echten Menschen mit Stärken und Schwächen zuzusehen, mit echten Gefühlen in einem echten Alltag. Auf den ersten Blick mag es befremdlich wirken, wie offen hier vor einem Millionenpublikum Momente intimster Verletzlichkeit inszeniert werden. Wie jedoch die Soziologin Eva Illouz in zahlreichen Studien gezeigt hat, sind im Kapitalismus Gefühle selbst zu Waren geworden. Die Tränen der Influencer können als Beispiel dafür gesehen werden.

Mitleid und Empathie

Vielleicht ist diese Sichtweise aber auch zu einseitig. Betrachtet man die virtuelle Inszenierung von Verletzlichkeit aus der Perspektive Gotthold Ephraim Lessings, eines Autors der Empfindsamkeit, so hat sie auch positive Effekte. Wie viele Denker seiner Zeit verband Lessing Mitleid und Moral eng miteinander: Die Zuschauenden sollten im Theater Mitleid mit den Figuren auf der Bühne entwickeln, sie sollten erkennen, wie ähnlich sie den leidenden Figuren sind, und so zu moralisch besseren Menschen werden.
Entsprechend forderte Lessing, Figuren im Theater müssten „gemischte Charaktere“ sein, also Figuren mit Stärken und Schwächen, eben keine idealen Helden, denn nur fehlbaren Figuren kann man sich nahe fühlen und also Mitgefühl empfinden. Vielleicht sind Influencer in ihrer vermeintlich authentischen Inszenierung genau solche gemischten Charaktere, die es ihren Communitys ermöglichen, mit ihnen zu fühlen.

Über Gefühle sprechen – nicht mehr schweigen

Jedes Video, in dem Influencer offen ihre Verletzlichkeit zeigen, trägt dazu bei, das Zeigen von Gefühlen zu enttabuisieren. Gehörten noch die Urgroßeltern oder Großeltern der Influencer der sogenannten „schweigenden Generation“ an, der Kriegskindergeneration, die über schwerste Traumatisierungen nicht sprechen konnte, so tauschen sich Influencer und ihre Communitys heute viel selbstverständlicher über mentale Gesundheit aus. Sie holen sich eher Hilfe und trauen sich schneller, über ihre Gefühle zu sprechen.
Der offene Umgang mit Gefühlen ist auch politisch relevant: Wenn sich Menschen trauen, ihre Verletztheit offen zu benennen, macht dies Strukturen sichtbar, die lange durch Scham aufrechterhalten worden sind – etwa die Scham darüber, nicht zu dem zu gehören, was die Gesellschaft als normal markiert.
Selbst wenn also die Verletzlichkeit der Influencer inszeniert sein mag – sie könnte einen Beitrag leisten zu einer sensibleren Gesellschaft, die nicht mehr fragt: „Was sollen die Nachbarn denken?“, sondern die fragt: „Was fühlt der andere und was bedeutet das für mich?“

Katharina Herrmann studierte evangelische Theologie und Germanistik, ist Literaturbloggerin auf kulturgeschwaetz.de, freie Kritikerin und Deutschlehrerin.

Eine Frau mit Brille schaut in die Kamera: die Kritikerin und Buchbloggerin Katharina Herrmann
© privat
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