Rückkehr der Ideologie

Von Unisex-Toiletten, Heizungskellern und SUV

Ein Schild für eine Unisex-Toilette im Stadion.
Eine Toilette für alle Menschen - Anstoß für zahllose Debatten © picture alliance / dpa / Swen Pförtner
Die Ideologie gilt spätestens seit dem Ende des Realsozialismus als tot. Doch mittlerweile ist sie wieder da und erobert den Alltag: Ob Toilette oder Wärmepumpe, Radweg oder Gendersprache – vieles wird als ideologisch bezeichnet. Wie kommt das?
"Die Lehre von den Ideen" - das bedeutet das Wort Ideologie, das aus dem Griechischen stammt. Doch spätenstens seit dem frühen 19. Jahrundert wird Ideologie zum politischen Kampfbegriff. Genutzt als Anschuldigung oder als Versprechen, selbst frei davon zu sein. Wie so viele Begriffe hat die "Ideologie" also einen Bedeutungswandel durchgemacht.

Woher kommt der Begriff Ideologie – und was bedeutet er?

Den Begriff „Ideologie“ prägt der französische Spätaufklärer Antoine Louis Claude Destutt de Tracy zur Zeit der Französischen Revolution. Er ist davon überzeugt, dass sich eine bessere Gesellschaft nur dann schaffen lässt, wenn man versteht, welche sinnlichen Eindrücke die Vorstellungen der Menschen prägen. Seine Philosophie nennt er „idéologie“ – sie soll eine wertfreie Wissenschaft von den Ideen sein. Ihre Vertreter nennen sich „idéologistes“, also Ideologen.
Ausgerechnet der Politiker und spätere Kaiser Napoleon Bonaparte ist es dann, der den Begriff polemisch zu verwenden beginnt. Ein Ideologe ist demnach nicht mehr Vertreter der Wissenschaft von den Ideen – sondern jemand, der weltferne Ideen hat, die nicht zur Wirklichkeit passen. Diese Bedeutung hat sich erhalten: Bis heute gilt die Ideologie im allgemeinen Sprachgebrauch als das Gegenstück zu einer nüchternen Politik.

Definition:

Im politischen Sinn dienen Ideologien zur Begründung und Rechtfertigung politischen Handelns. Sie sind immer eine Kombination von a) bestimmten Weltanschauungen wie Kommunismus oder Liberalismus, die jeweils eine spezifische Art des Denkens und des Wertsetzens bedingen, sowie b) von bestimmten Interessen und Absichten, die bestimmten Zielen dienen.
Ideologien drücken also neben einer Idee oder Weltanschauung auch den Wunsch zu deren konkreten politischen und sozialen Umsetzung aus.
Quelle: bpb

Wie die Ideologie für tot erklärt wurde – und warum

Um 1955 taucht die Idee vom Ende der Ideologie auf - bei einem Kongress in Mailand. Hier treffen sich Intellektuelle, die teilweise im Nationalsozialismus und Stalinismus verfolgt wurden. Sie werben für eine Gesellschaft, die nur noch der Idee der Freiheit verpflichtet sein sollte – nach Nationalsozialismus, Faschismus und dem Aufstieg des Stalinismus, deren Ideologien zu zerstörerischen Systemen geführt haben.
Es gibt einen weiteren Grund, warum Ideologien in dieser Zeit verworfen werden: Der Kapitalismus tritt in die Phase der sozialen Marktwirtschaft ein, der Wohlfahrtsstaat entsteht, und dadurch neuer Wohlstand für breite gesellschaftliche Schichten. Damit kann die Gesellschaft die Kämpfe um die Klassengesellschaft, die das 19. Jahrhundert geprägt haben, hinter sich lassen, erklärt die Soziologin Alexandra Schauer vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Es bedarf zunächst keiner utopischer Gesellschaftsentwürfe mehr.
Es ist schließlich der US-amerikanische Soziologe Daniel Bell, der die Ideologie 1960 in seinem gleichnamigen Buch für tot erklärt. Nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ scheint die These endgültig belegt: Die liberale Demokratie hat sich als überlegen behauptet und der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ruft das „Ende der Geschichte“ aus.

Wie die Ideologie unseren Alltag erobert hat

Mittlerweile kreisen Ideologie-Debatten häufig um Alltäglichkeiten: Heizungskeller, Unisex-Toiletten oder SUV. Wie aber kommt die Ideologie in den Alltag und damit in unsere Keller und Toiletten?
Alexandra Schauer bietet diese Erklärung: Ideologie wird nicht mehr auf der Ebene der großen Gesellschaftsentwürfe verhandelt, sondern setzt im Alltäglichen an – ein Ausdruck davon, dass grundlegend andere Gesellschaftsentwürfe von niemandem mehr in Betracht gezogen werden. Ein zweiter, wichtiger Grund: Unser Unbehagen an der Vorstellung, dass ohnehin alles alternativlos ist und wir daran nichts ändern können.
Vorbereitet wurde diese Wendung ins Alltägliche durch die sogenannte Kritische Theorie. In der modernen Gesellschaft haben sich einstmals widerstreitende Weltsichten abgeschliffen, so sehen das beispielsweise auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Doch die Ideologie ist in ihren Augen deshalb nicht am Ende. Im Gegenteil: Sie wird allgegenwärtig und allumfassender und zu einem Bewusstsein, das die bestehende Ordnung rechtfertigt und zum Ideal erhebt. Dadurch werden die herrschenden Verhältnisse bestätigt und gefestigt.

Politische Debatte: Ideologie als Vorwurf

Dass die Ideologie wieder da ist, das zeigen auch Protokolle von Sitzungstagen im Bundestag. 2013 etwa taucht der Begriff im gesamten Jahr nur gut 130-mal in den Protokollen auf. 2018 schon mehr als 460-mal und wiederum fünf Jahre später, 2023, 720 Mal.
Nicht alle Parteien verwenden den Begriff gleich häufig: Laut der Bundestagprotokolle entfallen 2018 gut 50 Prozent der Erwähnungen des Ideologie-Begriffs auf die Fraktion der AfD. Etwa 23 Prozent gehen auf das Konto der Union. Die anderen Parteien nutzen das Wort deutlich seltener - ziehen ab 2023 aber teilweise nach. Das gilt vor allem für die Grünen. Trotzdem ist das Wort auch 2023 deutlich häufiger aus den Reihen der AfD zu hören, gefolgt von der Union.

Was sagen die Abgeordneten selbst dazu?

Robin Mesarosch ist SPD-Bundestagsabgeordneter. Er sagt: „Das ist einfach dieser plumpe Vorwurf, der unterstellen soll, dass man Politik auf eigene Rechnung macht, dass man an Fakten nicht interessiert wäre. Das soll Ängste auslösen (…). Für mich ist es eine Begleiterscheinung, dass Diskussionen populistischer und aggressiver geworden sind.“
Philipp Amthor sitzt seit 2017 für die CDU im Bundestag, er meint: „Politische Debatten sind auch dadurch geprägt, dass sich nicht jeder mit dem Ideologie-Begriff von Karl Mannheim beschäftigt hat, was ok ist in einer bürgernahen, politischen Debatte. Und da steht der Vorwurf des Ideologischen eher für das allgemeine Verständnis, dass man sagt: Der andere hat ein in sich geschlossenes, wenig pragmatisches Weltbild.“
Dass die AfD den Begriff so exponentiell häufig verwende, habe etwas Entlarvendes, so Amthor. Denn sie wolle ein anderes System. Daher versuche sie, die liberale Demokratie zu delegitimieren, weil ihr dies mit Argumenten nicht gelänge.

Lydia Jakobi, csh
Mehr zu Philosophie und Alltag