Holocaust

Wie weiter? Eine Geschichtskultur ohne Zeitzeugen

34:16 Minuten
Blick in den verschneiten Wald bei Sobibor.
Blick in den Wald bei Sobibor: Ein Ort der Vernichtung Zigtausender Menschen, an dem man die Überreste, die Zeugnisse zum Sprechen gebracht hat. © Corbis via Getty Images / Andrew Lichtenstein
Von Siegfried Ressel  · 24.01.2024
Audio herunterladen
Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis: Was bleibt, wenn diese letzten Zeugen des Holocausts verstorben sind? Gedenkstätten, Forschungseinrichtungen und Historiker müssen auf das Fehlen der sogenannten "Zeitzeugen" reagieren.
Weimar im April 2015. Hotel "Elephant". Es ist ein unwirklich sommerliches Wetter - wie bestellt für die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Gedenkstätte hat die letzten 200 Überlebenden in die Stadt geladen, 80 sind gekommen, dazu drei Veteranen der US-Armee, die Buchenwald befreite. Die alten Menschen, alle um die 90, kommen miteinander ins Gespräch, Publikum ist geladen, Journalisten machen Fotos, führen Interviews.
Ein chinesisches Fernsehteam, spricht mit einem dieser letzten Zeugen.

Reporter: „Was fällt Ihnen ein, wenn wir Sie fragen über das Lager? Was fällt Ihnen direkt ein?“
Zeitzeuge: „Das ist unbeschreiblich!“
Reporter: „Und über Ihre Familie?“
Zeitzeuge: „Meine Familie? Meine Mutter haben sie vergast in Auschwitz, meinen Vater haben sie erschossen. Ich habe meine Eltern nicht mehr gesehen. Wenn man jedes Einzelne erzählen soll, dann ist es eine lange Geschichte, eine sehr, sehr lange Geschichte."

Schon über diesen Tagen in Weimar 2015 lag neben der Trauer über das Geschehene eine zweite Wehmut. Sie speiste sich aus dem Wissen, dass man zu den nächsten Jubiläen des Befreiungstages nicht mehr in dieser Vielzahl zusammenkommen würde.

Die Pandemie verhinderte Feier zum 75. Jahrestag

Und tatsächlich kam es noch schlimmer als erwartet. Die Pandemie verhinderte das 75. Befreiungsfest. Jetzt sind die letzten Überlebenden weit über 90 Jahre alt und es sind nicht mehr viele. Und so stellt sich die Frage: Was passiert nach dem Ende der Zeitzeugenschaft? Wie reagieren Pädagogen, Gedenkstätten, Museen auf das Sterben der letzten Augenzeugen der NS-Verbrechen und des Holocausts? Und was sind uns die Zeitzeugen eigentlich?
Volkhard Knigge, 2015 noch Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, formulierte damals während einer Begegnungsfeier zwischen jungen Weimarern und den Überlebenden den Gedanken, die ehemaligen Häftlinge nicht als Subjekte eines Streichelzoos wahrzunehmen, sondern als Diskurspartner. Als gegenwärtige Menschen, an deren historische Erfahrung man im heutigen Leben kreativ-analytisch Anteil nehmen solle.
Der Historiker Volkhard Knigge schaut in die Kamera.
„Es gibt nicht unser Erinnern, das hat es nie gegeben", sagt der Historiker Volkhard Knigge. © Sebastian Kahnert, dpa-Zentralbild
Der mittlerweile pensionierte Historiker und Autor erinnert sich: „Ich habe mir oft gedacht, wenn man an so einem Befreiungstag in Buchenwald ist und gerade mit Überlebenden und Zeugen, dann muss es einem erst mal die Sprache verschlagen. Man braucht diesen Moment, wo sich ein Abgrund öffnet, über den man dann sich hinweg fühlen und denken muss.“

„Es sind Diskurspartner, man spricht auf Augenhöhe“

Er erklärt: „Wenn man mit Überlebenden intensiv zusammengelebt hat, befreundet war, mit ihnen gesprochen hat, gefeiert hat, dann weiß man, was man von ihnen jenseits dieser Oberflächlichkeit hat. Und das ist eben dieses, was ich damals genannt habe.: Es sind Diskurspartner, man spricht auf Augenhöhe und man argumentiert. Man spricht miteinander, ernsthaft ja, und hört natürlich auch den Erfahrungen, die sie gemacht haben, zu.“
Und weiter: „Man stellt dann auch fest, dass auch gerade Überlebende ihre Erfahrungen durchdacht haben, philosophisch, politisch. Wie auch immer zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen gekommen sind, die sich in einem Punkt dann oft wieder berühren: Dass eine Art Grundsolidarität zwischen Menschen nicht angetastet werden darf und dass sie institutionell und politisch gesichert gehört.“

Das ist eigentlich das, was uns Überlebende – als Zeugen ernst genommen– mit auf den Weg geben, als Aufgabe, auch als Geschenk. Nämlich, dass man mit ihnen die Erfahrung gemacht, dass man darüber nachdenken kann, und zwar produktiv.

Volkhard Knigge, Historiker

In den ersten Jahrzehnten nach 1945 waren die Überlebenden vor allem forensische Zeugen der NS Verbrechen vor Gericht. Später dann mediale Augenzeugen, die in Diskussionsrunden, in Filmen, in Büchern und im Rundfunk von ihrem Schicksal berichteten. Aus dieser treffenden Zuschreibung "Augenzeuge" erwuchs im Deutschen allmählich der unscharfe Begriff des "Zeitzeugen", der "Zeitzeugin".
Unscharf deshalb, weil damit weder auf den Inhalt der Erinnerung der Zeugen, noch auf den thematischen Bezugspunkt verwiesen wird. Im Gegenteil. Die "Zeitzeugen" wurden – vor allem in den Sonntagsreden – zur Zentralinstanz einer unverbindlichen Wohlfühlerinnerungs- und Bewältigungskultur. Als hinge Bildung und Geschichtsschreibung von ihrer unmittelbaren Präsenz ab.

Welches „unser“ Erinnern ist gemeint?

Auf das so befürchtete Ableben der Zeitzeugen stellt man dann reflexhaft die Frage: Wie wird sich unser Erinnern verändern?
Eine an sich naheliegende Frage, die aber nur scheinbar schlüssig ist: Denn welches „unser“ Erinnern ist denn gemeint? Wer erinnert aus welcher Herkunft, aus welcher Generation, sozialer Herkunft und so weiter an wen oder an was?
„Von Erinnern ist die Rede eigentlich erst in den 80er-, 90er-Jahren und da wird es schon problematisch, weil für viele Aspekte der NS-Zeit gab es auch schon überhaupt gar keine Zeugen mehr, weil sie längst gestorben waren. Das heißt, dort wird schon gesagt, es fehlen uns die politischen deutschen Häftlinge, die 1933 folgende verhaftet und dann in die frühen und später in die großen normierten Konzentrationslager wie Buchenwald und Dachau kamen, denn die waren damals schon 50 oder 60, die hat man nie gehört“, erklärt Volkhard Knigge.
Und weiter: „Da kommt sozusagen dieses Erinnern als Pathosformel, und was dort verwischt wird, ist, dass es eben ein sich Erinnern schon oft gar nicht mehr möglich ist, weil sich Erinnern setzt die konkrete Miterfahrung voraus und es gibt Jemanden-Erinnern. Und insofern ist dieses Jemanden-Erinnern, ist eben etwas anderes und jemand zu erinnern ist hoch legitimationsbedürftig. Wer hat das Recht, wen an was mit welcher ethischen, moralischen, aber auch sachlichen Begründung zu erinnern?“
Man könne also zu Recht sagen: „Es gibt nicht unser Erinnern, das hat es nie gegeben. Es hatte immer damit zu tun, ob man es wahrhaftig erinnern wollte oder verzerrt erinnern wollte, ob man sich erinnern wollte, um sich wirklich auseinanderzusetzen oder um das Ganze auch irgendwie zu verharmlosen und zu vergolden. Auch so kann man ja seine Vergangenheit erinnern. Erinnern heißt erst mal gar nichts.“

Ringen mit der eigenen Erinnerung

Imre Kertész, Auschwitz- und Buchenwald-Überlebender, im Leben "danach" Autor, und Literaturnobelpreisträger, war jedes Pathos verdächtig. Zeit seines Schriftstellerlebens versuchte er "Auschwitz zu verstehen". Er rang mit der Darstellung und Vorstellbarkeit des Zivilisationsbruchs der Massenvernichtung der europäischen Juden und mit seiner eigenen Erinnerung.
Er tat dies mit einer radikal kritischen Selbstanalyse. Entsprechend fragwürdig fand er seine eigene Rolle als sich erinnernder Zeuge der NS-Verbrechen. So zum Beispiel in seinem Essay "Wem gehört Auschwitz?".
"Der Zwang zum Überleben gewöhnt uns daran, die mörderische Wirklichkeit, in der wir uns behaupten müssen, so lange wie möglich zu verfälschen, während der Zwang zum Erinnern uns verführt, eine Art Genugtuung in unsere Erinnerungen zu schmuggeln, den Balsam des Selbstmitleids, der Selbstglorifizierung der Opfer"
Aus "Wem gehört Auschwitz?“ von Imre Kertész
Im selben Essay warnt er davor, dass aus dem Holocaust "billige Warenartikel" hergestellt und "Holocaust-Produkte für den Holocaust-Konsumenten entwickelt" werden würden.

Dialog mit einem Hologramm

„Mein Vater hieß Siegfried Maier. Meine Mutter hieß Charlotte Maier, geborene Auerbacher. Mein älterer Bruder hieß Heinz und mein Name ist Kurt.“ Das lebensgroße digitale Antlitz von Kurt Maier wippt nach dieser Auskunft zurück in seine „resting pose“, die es immer einnimmt, wenn es nicht befragt wird und lächelt, in einem Ohrensessel sitzend, aus der Leere einer Projektionsleinwand hinein in die Leere des Raumes in dem ich gemeinsam mit Sylvia Asmus stehe.
Sie ist Leiterin des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 im Hause der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main, in dem wir uns befinden. Sie war es auch, die dem Zeitzeugen Kurt Maier in Washington 900 Fragen zu seinem Leben, zu seinem Schicksal als jüdischer Vertriebener, als Exilant in den USA stellte. Diese Befragung wurde mit vielen Kameras aufgezeichnet und wird mittels aufwendiger Software in eine holografische 3-D-Projektion gewandelt.
Dieses Projekt ist „Teil des Dimensions in TestimonySM  Programmes der USC Shoah Foundation und wurden mit dem Ziel entwickelt, dass die Geschichten der Zeitzeug*innen der Shoah auch künftige Generationen erreichen. Mit eigens dafür aufgezeichneten Interviews ermöglicht Dimensions in TestimonySM mit Zeitzeug*innen in eine Frage-Antwort-Interaktion zu treten.“
Im November 2022 ist die vorläufige Beta-Version des Projektes zu sehen, und die ist erst in 2-D. Sinn des Ganzen ist es, mit Kurt Maier selbst zu sprechen, also dem digitalen Kurt Maier. Das Frage-Antwort-Spiel mit dem Probanden funktioniert eher leidlich. Denn die Antworten muss erst eine Software generieren, die sich der Antworten auf die besagten einstmals gestellten 900 Fragen bedient, und das dauert.

Ein „interaktives Zeitzeugnis“

Das sogenannte "interaktive Zeitzeugnis" Kurt Maiers wird annonciert unter dem Motto: "Aus der Vergangenheit lernen für die Gegenwart - Interaktive 3-D-Interviews mit Zeitzeug*innen des historischen Exils".
Ab Sommer 2023 sollen die holografischen Projektionen im Ausstellungsbereich des Exilarchivs in Betrieb gehen – zusammen mit einer kontextualisierenden Ausstellung. Die Besucher können diese und weitere Projektionen dann, um beispielhaft etwas zur Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der badischen Juden im NS-Staat zu erfahren.
Das Projekt selbst versteht sich als eine Antwort auf die selbstgestellte Frage: „Was aber passiert, wenn es keine Zeitzeug*innen mehr gibt, die von Shoah und Exil erzählen können?“
Nun ist es ja nicht so, dass man zu wenig weiß: Die Shoah, der Holocaust, der Zivilisationsbruch der Deutschen ist das bestdokumentierte Verbrechen der Menschheitsgeschichte; unzählige Dokumente, Aufzeichnungen, Interviews, Fotografien, Filmen, autobiografische Literatur et cetera sind aus Archiven, Bibliotheken und Mediatheken abrufbar, zu lesen, anzuschauen und zu hören.

Worin besteht der Mehrwert?

Wissen wird vermittelt, Empathie erzeugt. Worin also besteht der Mehrwert eines digitalen Replikanten von Kurt Maier?
„Also der Mehrwert, glaube ich, der liegt wirklich darin, dass man diese Frage-Antwort-Situation hat. Wir haben jetzt so 40, 50 Testgruppen gehabt in dieser Betatestphase, um natürlich auch zu erfahren, hat das einen Mehrwert, ist es wirklich so? Und das Feedback war doch, dass also durchweg eigentlich bestätigt wurde, man fühlt sich irgendwie näher an der Person, als wenn man einen Film sieht, in dem man eben nichts fragen kann“, erklärt Sylvia Asmus.

Wie soll ich sagen? Man fühlt sich stärker animiert, Fragen zu stellen, als wenn man Herrn Meier jetzt nicht sehen würde. Es ist wirklich ganz klar, es ist eine Form der Darstellung und der Interaktivität, die es uns, glaube ich, wo wir das ja alle gewöhnt sind, dass wir ständig in Interaktion sind, leichter macht, damit umzugehen.

Sylvia Asmus, Leiterin des Deutschen Exilarchivs 1933-1945

Sylvia Asmus posiert für ein Foto.
"Man fühlt sich stärker animiert, Fragen zu stellen", sagt Sylvia Asmus über das Projekt im Deutschen Exilarchiv 1933-1945.© Deutschlandradio / Siegfried Ressel
Stellt sich die Frage, warum soll man es eigentlich leichter machen, "damit umzugehen"? Leicht? Gemütlich gar? Niederschwellig, wie man so sagt? „Wo wir das ja alle gewöhnt sind, dass wir ständig in Interaktion sind“, wie Sylvia Asmus sagt.
Darf das Beschäftigen mit den NS Verbrechen im Wortsinn keine Zumutung mehr sein? Sind die Überlebenden Spielfiguren, die KI-generierte Textbausteine in kleinen Portionen zum Besten geben?
Die „Interaktion“ mit Kurt Maier ist verstörend. Andererseits habe ich ein diffuses Gefühl des Mitleids, aber was habe ich erlebt? Dass man näher an der Person sein würde „als wenn man einen Film sieht“ ist zu bestreiten.

„Shoah“ von 1985 – ein eindrückliches Dokument

Zu den bedrückendsten und zugleich eindrücklichsten Dokumenten bezüglich des Holocausts zählen die Interviews, die der französische Autor und Dokumentarfilmer Claude Lanzmann für seinen Film "Shoah" von 1985 innerhalb von etwa zehn Jahren gedreht hat. Lanzmann – als Stellvertreter der Zuschauer– fragt, bohrt nach, insistiert.
Zu sehen ist eine tatsächliche Interaktion, zwischen Regisseur und Befragten. Es gibt eine regelrechte Architektur der Gesprächsführung, der Lanzmann unnachgiebig folgt. Die allmähliche Annäherung beider Seiten – unterbrochen von Pausen des Nachdenkens – absichtsvoll sichtbar. Es gibt die Suche nach der treffendsten Formulierung. Es gibt Pausen, um Luft zu holen, um sich zu sammeln, um zu weinen. Vieles, was man sieht und hört, ist kaum auszuhalten. Rau. Aufwühlend.
Denn Lanzmann geht es um den millionenfachen Tod. Es geht ihm um das Aufhellen der Schwärze. Um das gemeinsame Nachdenken über das sogenannte Unvorstellbare. Um die Ausführung des Massenmords: bürokratisch, technisch. Der konkrete Vorgang, der Ablauf wird vom Regisseur akribisch abgefragt. Die Orte der Vernichtung sind zu sehen, die Verlorenheit der Überlebenden zu spüren.
Ein Gesprächspartner von Lanzmann ist Richard Glazar, einer der wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers Treblinka. Dort hatte er als sogenannter "Arbeitsjude" vor allem die Habseligkeiten der Getöteten zu sortieren. Seine Rettung war der Lageraufstand am 2. August 1943. Glazar floh. Schlug sich durch. Überlebte. Wurde Zeuge.
Lanzmann befragt ihn im Frühling 1979 über mehrere Tage. Der Interviewort ist mit Bedacht gewählt, im Freien, auf einem Balkon unter dem der Rhein entlang fließt. In Basel, wo Glazar lebt.

„Ich meine, das erste Mal, du hast verstanden, dass alle die Leute, die mit dir gekommen sind...“
„Tot sind.“
„Ja, tot, tot sind. Und was für ein Tod? Vergast?“
„Ja. Dann hat man, das war der erste Tag, das hat man mir nach und nach, also allmählich gesagt, die Leute gehen in die Gaskammern und werden dort in den Gaskammern getötet.“
„Und du hast geglaubt?“
„Und dann als ich sah die Sachen, die Berge von Sachen, alle die Reste... Und als ich sah, was die SS-Männer mit uns machten und die Ukrainer, dann hab ich`s geglaubt. Dann war es also dann ohne Zweifel, das Ganze. Aber hauptsächlich überzeugend waren die Berge von Sachen und die Transporte, die dauernd ankamen. Es kamen weitere und weitere Transporte.“
„Und du hast die Transporte gesehen?“
„Ich hab die Transporte ge... also wenigstens...“
„Von Deinem Platz?“
„Wenigstens gehört hab ich das. Dass die Züge angekommen sind. Und ich hab die Leute schreien gehört und die Kinder hab ich weinen gehört und die Frauen.“

Aus „Shoah“ von Claude Lanzmann

Fotodokumente aus einem KZ-Außenlager

Buchenwald. Die Schülerinnen und Schüler der Klassen 10e und 10f der Ganztagsrealschule Odenthal sind hier für drei Tage, um die Gedenkstätte zu besichtigen und an pädagogischen Workshops teilzunehmen. Einer davon ist die Arbeit mit der sogenannten Penig-Box.
Im sächsischen Penig befand sich seit Januar 1945 ein Außenlager des KZs Buchenwald, in dem 703 jüdische Zwangsarbeiterinnen in einer benachbarten Fabrik Flugzeugteile herstellen mussten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren katastrophal, die entkräfteten und kranken Frauen wurden brutal ausgebeutet.
Als das Lager am 14. April von den amerikanischen Truppen befreit wird, fotografieren und filmen Kriegskorrespondenten das Geschehen in den folgenden Tagen. Sie dokumentieren die medizinische Erstversorgung der Frauen durch amerikanische Sanitäter und den Abtransport in ein Lazarett nach Altenburg.
So entsteht eine Fotoserie, die den gesamten Verlauf der Befreiung und Rettung chronologisch nachvollziehbar macht. Eine einzigartige Dokumentation, die jahrzehntelang unbeachtet in Archiven verschwand. Erst 2019 wurde sie von Ronald Hirte, einem Mitarbeiter der Bildungsabteilung, wiederentdeckt. Gemeinsam mit einer Fotokünstlerin ließ er 87 Fotos der Serie restaurieren und auf das Format A5 vergrößern. Zusammen mit Begleittexten sowie Filmmaterial entstand die sogenannte Penig-Box.
Die Schülerinnen und Schüler legen, in Gruppen aufgeteilt, die Fotos auf Arbeitstischen aus. Ziel ist es, sie in der chronologischen Reihenfolge des Entstehens aneinanderzulegen, sodass en passant der Vorgang der Befreiung, aber vor allem auch das Schicksal der Penig-Frauen vermittelt wird.

Unmittelbar und aufklärerisch

Ronald Hirte begleitet diese Arbeit und diskutiert später die Ergebnisse. „Mich macht der Anblick auf jeden Fall traurig. Traurig vor allem, weil das ja auch viele Frauen sind, die auch in einem ziemlich schlechten Zustand sind. Man sieht halt offensichtlich, dass sie total abgemagert sind. Man merkt doch, dass es ihnen mental zu dem Zeitpunkt zwar vielleicht ein wenig besser geht, aber man sieht auf jeden Fall, in was für unmenschlichen Verhältnissen sie gelebt haben. Und das finde ich absolut nicht vertretbar“, sagt er.
Die Penig-Fotos haben durch ihre Unmittelbarkeit ein großes aufklärerisches Potenzial. Neben ihrem dokumentarischen Charakter vermitteln sie durch Motivwahl, Perspektive und visuelle Gestaltung auch das Erschrecken der Fotografen über das, was sie vorfinden und weiterhin dann die allmähliche Annäherung zwischen ihnen und den gerade erst befreiten Frauen.
Beide Seiten müssen begreifen, was geschieht. Ein Prozess setzt sich in Gang, der sich am Ende durch Fotos schließt, auf denen einige Frauen im Freien zusammensitzen, Zigaretten rauchen, zaghaft in die Kamera "ihrer" begleitenden Fotografen lächeln.

Pädagogische Konzepte zur Vermittlung

Roland Hirte ist seit 1998 pädagogischer Mitarbeiter in Buchenwald. Die klassische Situation, Schülergruppen besuchen eine KZ-Gedenkstätte, ist sein Metier. Es ist ein unaufhörliches Kommen und Gehen. Hirte und seine Kolleginnen und Kollegen, können anregen, sich mit der Sache tiefer auseinanderzusetzen. Sie entwickeln laufend neue pädagogische Konzepte.
Ihre Arbeit ist nicht genug wertzuschätzen und dennoch erleben wir in Deutschland jährlich um die zwei- bis dreitausend polizeilich registrierte antisemitische Delikte.

Das ist ein ständiges Anrennen, das tut nicht gut, kostet irre viel Energie. Aber dennoch, die Hoffnung glaube ich, oder auch die Haltung, dass diese Orte hier sehr wohl relevant sind und gestärkt gehören, gerade auch die Bildungsarbeit gestärkt gehört, die nimmt mit jedem Missbrauch auch zu. Aber auch die Skepsis, die Selbstzweifel am eigenen Tun, auch die wachsen über die Jahre hinweg.

Roland Hirte, pädagogischer Mitarbeiter

Autobiografische Erzählung über die Verfolgung

Ruth Klüger liest aus: "weiter leben – Kapitel Auschwitz III“:
„An demselben Abend, als wir endlich in einer Baracke in der mittleren Etage des Stockbettes zu fünft auf dem Strohsack lagen, erklärte mir meine Mutter, dass der elektrische Stacheldraht draußen tödlich sei, und machte mir den Vorschlag, zusammen in diesen Draht zu gehen.

Ich traute meinen Ohren nicht. Wenn das Leben lieben und sich ans Leben klammern dasselbe ist, dann habe ich das Leben nie so geliebt wie im Sommer 1944 in Birkenau im Lager B2B. Ich war zwölf Jahre alt, und der Gedanke, mit Zuckungen in einem elektrischen Stacheldraht zu verenden, und das noch dazu auf Vorschlag meiner eigenen Mutter, und jetzt gleich, überstieg mein Fassungsvermögen.

Ich rettete mich in die Überzeugung, sie hätte es nicht ernst gemeint. Nahm es ihr übel, solche Späße getrieben zu haben, um mich zu ängstigen. Eine Spielverderberin war sie ja immer gewesen. Meine Mutter nahm meine Weigerung so gelassen hin, als hätte es sich um eine Aufforderung zu einem kleinen Spaziergang in Friedenszeiten gehandelt. ‚No, dann eben nicht.‘ Und sie kam nie wieder auf diesen Vorschlag zurück.“
Ruth Klügers Text "weiter leben" ist in Deutschland 1992 erschienen. Die autobiografische Erzählung über die Verfolgung der jüdischen Wiener Autorin, die in die Lager von Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt deportiert worden ist, wurde zum Bestseller und ist bestens geeignet als Schullektüre.

Die vermittelnde Rolle der Literatur

Sascha Feuchert, Professor an der Uni Gießen mit Schwerpunkt Holocaustliteratur ist Initiator einer Erklärung, in der der Fachverband Deutsch im Deutschen Germanistenverband fordert, dass die Beschäftigung mit Literatur über den Holocaust verpflichtend in den Schulen Berücksichtigung findet.
Das Versterben der letzten Überlebenden, die Auskunft geben können, ist ein Leitgedanke dabei.
„Schule ist deshalb für mich auch so wichtig, weil es die einzige gesellschaftliche Institution ist, die wir alle irgendwie durchlaufen. Wenn du dann aber genauer hinschaust, dann ist da kaum wirkliches Wissen. Und ich stelle das auch bei meinen Studenten fest, die ganz unsicher sind in Begriffen. Die wissen häufig nicht, was der Unterschied ist zwischen einem Konzentrations- und einem Vernichtungslager“, erklärt er.

Die Zeit des Nationalsozialismus wird gleichgesetzt mit dem Zweiten Weltkrieg. Also wir merken ja, irgendwas funktioniert da nicht mehr schulisch. Darauf müssen wir reagieren. Ich glaube tatsächlich, dass das auch damit zu tun, auch, nicht nur, aber auch damit zu tun hat, dass diese Gespräche auf Augenhöhe mit Zeitzeugen in den Schulen so gut wie nicht mehr stattfinden können, weil die Menschen einfach zu alt oder schlicht nicht mehr da sind.

Sascha Feuchert, Literaturwissenschaftler

Texte aus Polen zugänglich machen

In den letzten Jahren sind einige bemerkenswerte Titel zum Thema Holocaust erschienen, die noch mal echte Entdeckungen sind. Dazu zählt unter anderem Seweryna Szmaglewskas autobiografischer Roman "Die Frauen von Birkenau", der seit vielen Jahrzehnten auf dem Lehrplan polnischer Schüler steht und nun auch ins Deutsche übersetzt worden ist.
Sascha Feuchert ist – neben seiner Professur– seit 2021 Herausgeber der ambitionierten "Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur", die auf zehn Bände konzipiert ist. Drei sind bereits erschienen. Was ist so spannend an den polnischen Autoren?
„Die polnische Literatur ist die Literatur, die am meisten gesehen hat. Es gibt keinen Quadratzentimeter in Polen, der nicht blutdurchtränkt ist durch diese Ereignisse nach 1939“, erklärt er. „Also es ist eigentlich die Literatur, die uns am meisten erzählen kann. Und wir haben uns entschieden, diese Texte jetzt zugänglich zu machen, weil sie ganz entscheidend darüber berichten können und anders darüber berichten können, was da passiert ist.“

Eine Bahnstation als Ende des Lebens

Die Rampe der ehemaligen Bahnstation Sobibor weit im polnischen Osten. Ein Ort dessen Banalität und Kargheit mit dem Wissen um das, was hier geschehen ist, in Bösartigkeit umschlägt. Ein Nicht-Ort, der nicht hätte sein dürfen. Diese Rampe mit ihren toten Gleisen, da keine Bahn mehr hierherfährt. Diese Rampe unverschönt, gedeckt mit brüchigen Betonplatten. Diese Rampe war das Ende des Lebens argloser Menschen, die hier aus Eisenbahnwaggons stiegen und direkt in den Tod gingen.
Im "SS-Sonderkommando Sobibor", so die offizielle deutsche Bezeichnung, sind mindestens 180.000 Juden – Frauen, Männer und Kinder, die meisten von ihnen aus Polen, den Niederlanden und der Slowakei – in den Jahren 1942 und 43 ermordet worden.
Wie erzählt man diese Vernichtung, die von nicht mehr als 20 bis 30 SS-Männern und 120 ukrainischen Wachmännern durchgeführt wurde, und zwar auf einem kleinen Gelände von nur 400 mal 600 Metern inmitten eines waldigen, sehr dünn besiedelten Gebietes? Zumal das Lager nur wenige Häftlinge überlebten, die Auskunft gaben.

Gedenkstätte Sobibor – der Ort steht im Mittelpunkt

Vom Jahr 2000 an wurden systematisch archäologische Untersuchungen auf dem ehemaligen Lagergelände durchgeführt. Es kamen dabei wesentliche Spuren zutage, die für das Narrativ des ehemaligen Vernichtungslagers von elementarer Bedeutung sind.
„Ganz wichtig bei der Konzeption der Gedenkstätte Sobibor war der Ort. Der historische authentische Ort. Das heißt, der Ort hat Vorrang, die Ausstellung ergänzt den Ort. Das ist ganz wichtige Voraussetzung. Warum? Man hat vorgefunden bei diesen archäologischen Untersuchungen die materiellen Spuren vom Lager. Und zwar die Entladerampe, das ist ein wichtiger Punkt hier bei dem Besuch der Gedenkstätte, und was ganz wichtig ist: die Fundamente von den Gaskammern“, erklärt Wieslaw Wysok.

Also, diese Elemente, die die Topografie oder die Landschaft der Gedenkstätte jetzt bilden, sind von großer Bedeutung für die Wahrnehmung der ganzen Gedenkstätte, beziehungsweise des Museums, eben Sobibor. Der Ort ist ganz wichtig und steht praktisch im Mittelpunkt des Besuchs.

Wieslaw Wysok, Historiker

Wieslaw Wysok ist stellvertretender Direktor der polnischen KZ-Gedenkstätte Majdanek und mitverantwortlich für das 100 Kilometer entfernte Sobibor. Er führt durch die Dauerausstellung des im Jahre 2020 eingeweihten Museums der Gedenkstätte. Unübersehbar ist die sich längs durch den Ausstellungsraum ziehende beleuchtete Vitrine, in der Relikte, die man verstreut im Gelände durch Ausgrabungen fand, ausgestellt sind.

„Wir wollen Fakten vermitteln“

„Wir wollen wirklich zeigen, hier sind Menschen gewesen, die hatten ihr Leben – sie haben auch persönliche Dinge, Gegenstände dabei – und die haben es mitgebracht. Sie haben zum Beispiel Hausschlüssel mitgebracht, weil sie glaubten, sie würden zurückkehren. Ich glaube, das sind so Gegenstände, durch die kann man doch Fakten vermitteln, aber auch natürlich Gefühle und Emotionen“, erklärt der Historiker.
Und weiter: „Man muss die nicht speziell herstellen, das wollen wir nicht. Wir wollen Fakten vermitteln, Fakten im Sinne von Dokumenten, auf Quellen, auf Relikten in dem Sinne. So weit sind diese persönlichen Gegenstände auch Beweise, aber auch Zeugnisse. Nicht nur vom Tod, auch vom Leben. Und so haben wir zu tun mit der Individualisierung der Schicksale, das ist sehr, sehr wichtig für die museale Erzählung.“
Diese Erzählung schließt auch die Täter und deren Objekte und Dokumente ein. Sie berichtet aber auch von dem Aufstand der Häftlinge des Vernichtungslagers am 14. Oktober 1943. 300 Aufständischen gelang die Flucht, 60 von ihnen waren nach Kriegsende noch am Leben.
Die Deutschen lösten im Dezember 1943 das Lager auf. Die meisten Gebäude wurden abgerissen, die Gaskammern gesprengt. „Die Asche und Knochenreste von verbrannten Leichen wurden in flachen weiten Gruben verteilt und mit Sand bestreut, und dann pflanzte man an diesen Stellen einen Kiefernwald“, so 1945 der Bericht der zuständigen Staatsanwaltschaft von Lublin.

Analytisches Gedenken ohne Simulation

Sobibor ist ein stiller Ort, an dem man die Überreste, die Zeugnisse zum Sprechen gebracht hat: Das Museum, die Topografie, die die Aschefelder der Opfer und jenen letzten Weg zeichnet, auf dem sie, von der Rampe kommend, in die Gaskammern getrieben wurden: ein analytisches Gedenken. Unsentimental, sperrig, ohne Simulation.
Eine beleuchtete Vitrine in einem dunklen Ausstellungsraum zeigt ausgegrabene Objekte aus dem Wald bei Sobibor
In der Gedenkstätte von Sobibor werden die persönlichen Gegenstände der Ermordeten ausgestellt, die im Boden gefunden wurden.© Deutschlandradio / Siegfried Ressel
„Ja, wir gehen so um mit der Frage des Ablebens von Menschen, die das erlebt haben, erfahren haben: Wir zeigen Gesichter, ganz wichtig sind die Berichte von denen. Sie sind sehr authentisch, aber sie sind auch emotional. Und wir nennen die Namen, wir übernehmen, und das ist schon praktisch jetzt, die Funktion eines sogenannten ‚Ersatzzeugen‘. Die Überlebenden begleiten uns als Videoaufzeichnungen, Berichte sind von großer Bedeutung, aber der Ort an sich ist schon ein Zeuge“, sagt Wieslaw Wysok.
„Ich denke, mit diesem Konzept, architektonischem Konzept, schaffen wir den Zugang zum Thema Holocaust und zum Thema Kampf, Widerstand – hier Aufstand in Sobibor – um den Besuchern klarzumachen: Das Hauptziel der Gedenkstätte Sobibor ist, der Opfer zu gedenken durch diese Formen, Methoden und Zugänge.“

Wiederholung vom 1.2.2023

Mehr zum Thema