50. Todestag

Hannah Arendt über totale Herrschaft

Hannah Arendt blickt auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie, in einem Sommerkleid vor einem Bücherregal sitzend und mit einer Brille in der Hand, im Jahr 1966 in die Kamera.
Hannah Arendt (1906-1975) zählt zu den wichtigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. © picture alliance / Fred Stein / Fred Stein
Kristina Reymann-Schneider |
Hannah Arendt floh vor den Nazis in die USA und veröffentlichte dort 1951 eine ihrer bekanntesten Schriften. Obwohl sie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" vor mehr als 70 Jahren geschrieben hat, ist das Buch erstaunlich aktuell.
Hannah Arendt war 26 Jahre alt, als Hitler Reichskanzler wurde. Kurz darauf floh sie aus Deutschland. Sie hat früh erkannt, dass die Nationalsozialisten die Juden vernichten wollten. Ihr war klar, dass sie kontinuierlich daran arbeiten würden, ihre Ideologie in Politik und Gesellschaft durchzusetzen.
Wie eine Gesellschaft ins Totalitäre abdriftet, wie es zum Holocaust kommen konnte und warum Menschen zu Mördern werden, waren Fragen, die sie zeitlebens beschäftigte. Sie prägte den Begriff der „Banalität des Bösen“ und musste dafür viel Kritik einstecken. Heute gilt Hannah Arendt als eine der wichtigsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts.

Wer war Hannah Arendt?

Die Deutsch-Amerikanerin Hannah Arendt bezeichnete sich selbst gar nicht als Philosophin. Sie verstand sich als politische Theoretikerin. 1906 kam sie bei Hannover zur Welt. Sie wuchs in Königsberg auf und wurde 1933 von den Nazis verhaftet. Kurz darauf floh sie nach Paris, wo sie als Sozialarbeiterin tätig war und zu Antisemitismus forschte.
1941 emigrierte sie in die USA. Dort war sie Cheflektorin bei einem jüdischen Verlag, Direktorin einer Organisation zur Rettung jüdischen Kulturguts, schrieb für verschiedene Zeitungen und lehrte ab den 1950er-Jahren an US-Universitäten. Ihre Studie "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" erschien 1951 zunächst auf Englisch, vier Jahre später auf Deutsch.

Totalitarismus nach Hannah Arendt

Das Politiklexikon bezeichnet Totalitarismus als „eine politische Herrschaft, die die uneingeschränkte Verfügung über die Beherrschten und ihre völlige Unterwerfung unter ein (diktatorisch vorgegebenes) politisches Ziel verlangt“. Hannah Arendt verstand den Totalitarismus als eine vollkommen neue Herrschaftsform. Er zerstöre die menschliche Spontaneität im politischen Handeln und damit die Individualität, erklärt die Philosophin Eva von Redecker, die sich intensiv mit Arendts Werk auseinandergesetzt hat.
In einem totalitären System regiert das „Prozessdenken“, wie Arendt es nennt. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft würden einem allumfassenden Prozess untergeordnet. Kategorien wie Recht und Unrecht, Wahrheit oder Lüge spielen keine Rolle mehr. Was einzig zählt, ist der Prozess. Der einzelne Mensch werde dabei überflüssig gemacht und könne nicht mehr selbst handeln.

Kolonialismus und Kapitalismus als Wegbereiter

Der Totalitarismus wurzelt aus Arendts Sicht im Imperialismus, also in der Kolonialzeit. Denn dort kamen zwei Dinge zusammen: einerseits die rücksichtslose Expansionspolitik, andererseits Völkermorde. Deutschland wollte sich – genauso wie andere europäische Mächte – in Afrika einen „Platz an der Sonne“ sichern und sein Territorium vergrößern. Das gelang aber nur, indem die Menschen, die in den afrikanischen Ländern lebten, von ihrem Land vertrieben, verfolgt, unterdrückt, als Arbeitskräfte missbraucht oder getötet wurden. Vor der Küste des heutigen Namibias betrieben die Deutschen ein Konzentrationslager.
Im Imperialismus sei die Idee eingeübt worden, dass manche Menschen überflüssig seien. Darüber hinaus trage der Imperialismus kapitalistische Züge, weil er nicht zum Stillstand komme. „Man muss immer die Grenzen verschieben, immer weiter den Prozess voran rollen lassen und alle Grenzen sprengen in so einer Wachstumslogik“, erklärt die Philosophin Eva von Redecker. Das sei für Arendt der Kern imperialistischer Politik.
Imperialismus und kapitalistische Logiken bedingen bei Arendt einander. Sie führten in einer bürgerlichen Gesellschaft zu einem „zersetzenden Prozessdenken“ und seien notwendige Vorbedingungen des Totalitarismus.

Demokratien sind fragil

Autoritäre Führer können mit demokratischen Mitteln an die Macht kommen. Aber sind sie erstmal in Regierungsverantwortung, sind sie imstande, die Demokratie so weit aushöhlen, dass sie nicht überlebt. Hitler hat nie einen Hehl daraus gemacht, was er vorhatte, wenn er erstmal an der Macht wäre. Sein „Programm“ „Mein Kampf“ erschien bereits 1925, acht Jahre bevor er Reichskanzler wurde.

Denn die Propaganda totalitärer Bewegungen, die der totalen Herrschaft vorausgehen und sie bis zu einem gewissen Punkte weiterhin begleiten, ist zwar letztlich verlogen, aber keineswegs geheimnistuerisch. Totalitäre Führer beginnen ihre Karriere meist damit, dass sie sich ihrer vergangenen Verbrechen mit unvergleichlicher Offenheit rühmen und ihre Zukünftigen mit unvergleichlicher Genauigkeit voraussagen.

Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft"

Damit widerspricht Arendt ganz vehement der „Vorstellung von verführten Massen, die gewissermaßen gar nicht anders konnten, als entweder durch bloßen Terror oder durch bloße irrationale Kräfte sich einem schrecklichen Führer anzuvertrauen, den dann niemand gewollt hat. Sondern sie sagt, ihr hättet eigentlich zuhören können“, so Eva von Redecker.
Ein Problem war, dass Hitlers Geschwurbel für viele Intellektuelle, Kommunisten und Sozialdemokraten so dermaßen abwegig klang, dass sie ihn nicht ernst nahmen, dass sie es sich überhaupt nicht vorstellen konnten, dass er mal der mächtigste Mann im Staate werden würde mit der Absicht ein Großdeutsches Reich zu errichten und Minderheiten auszulöschen.
Auch über Donald Trump haben sich 2015 viele lustig gemacht, als er verkündete, dass er der nächste US-Präsident werden wolle. Dass er sogar ein zweites Mal gewählt werden würde, hätten wohl viele damalige Beobachter für einen Scherz gehalten. Nun regiert er mit Hass und Hetze gegen Minderheiten und politische Gegner, setzt ultrakonservative Richter ein, schränkt die Rechte von Transmenschen ein und schickt die Nationalgarde unter dem Vorwand, die Kriminalität zu bekämpfen, in mehrere US-Städte.

Sehnsucht nach autoritären Führern

Es ist ein Muster autoritärer Führer. Sie üben ein, Menschen ihre Rechte zu entziehen. Und da es zunächst nur eine Minderheit betrifft, zieht die Mehrheit mit. „Irgendwie denkt man, da passiert doch nicht die Weltgeschichte, aber gleichzeitig passiert da sehr gezielt ein autoritärer Umbau“, sagt Eva von Redecker.
Der autoritäre Umbau geschieht in aller Öffentlichkeit. Denn autoritäre Führer brüsteten sich gerne damit. „Es gibt so eine Art Selbstglorifizierung als Gangster“, sagt Eva von Redecker. „Das ist auch ein Element, was aus so einer vernünftigen Position schwer zu fassen ist, dass Trump im Grunde durch seine ganzen Gerichtsprozesse eher Werbung gemacht hat für sich, als dass ihn das irgendwie diskreditiert hätte.“
Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) mit einer Zigarette in der Hand. Sie blickt den Betrachter direkt an.
Hannah Arendt: „Ich muss verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben.“ © picture-alliance / / HIP / Jewish Chronical
Schon Arendt attestierte der Bourgeoisie Ende des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert eine Heldenverehrung für Gangster. Die kommt nicht von ungefähr. Eine bürgerliche Gesellschaft falle in sich zusammen, meint Arendt, wenn der Einzelne nicht mehr das Gefühl hat, dass sich Leistung und Anstrengung lohnen. Die Menschen seien dann frustriert, erläutert Eva von Redecker „Und es gibt einen Abfall von dem Glauben an Recht und Gerechtigkeit und letztlich eine geheime, auch unverhohlene, vielleicht sogar offenere Komplizenschaft mit Gangstern.“

Erlösung in der Masse und Desinteresse an der Welt

In einer von imperialistischen und kapitalistischen Dynamiken getriebenen Gesellschaft bleiben diejenigen auf der Strecke, deren persönliche Vorstellungen von Erfolg sich nicht erfüllen. Laut Arendt betrachten sie sich als „gescheiterte Existenzen“. Gemeinsam sei ihnen, dass sie nicht mehr an sich selbst glaubten. Sie hätten das Gefühl, „dass das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann“. Ein Ausweg aus der Misere ist der Eintritt in die Masse. Dort aber verschwinde das Individuum und mit ihm das Interesse an der Welt.

Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt hatten die vermassten Individuen die Quelle aller Ängste und Sorgen verloren, die das menschliche Leben in der Welt nicht nur bekümmern, sondern es auch leiten und dirigieren.

Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft"

Die so genannte „Weltlosigkeit“ sei für Arendt die zentrale politische Katastrophe, sagt Eva von Redecker. Arendt meint damit, dass sich Menschen nicht mehr auf eine gemeinsame Welt beziehen würden und in ihrem Handeln kein Interesse mehr an der Welt hätten.
Ein politisches Streitgespräch wird unmöglich, weil eine gemeinsame Basis fehlt. „Arendt erwägt mitunter diese Situation, dass nicht nur die Welt verloren ist, sondern Menschen gewissermaßen unterschiedliche Welten bewohnen“, sagt Eva von Redecker. „Das scheint mir durchaus eine Erfahrung zu sein, die viele Menschen im Moment in Debatten machen, dass man das Gefühl hat, man ist sich nicht nur uneins, sondern man ist sich uneins auf verschiedenen Planeten.“

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