Essay über Hannah Arendt und Ralph Ellison

Zwischen zwei Welten

09:23 Minuten
Das Cover des Buches "370 Riverside Drive - 730 Riverside Drive" von Marie Luise Knott. Zu sehen sind zwei weiße Striche, auf denen jeweils ein Adressteil steht. Sie laufen auf zwei Bildhälften entlang der Diagonale.
© Matthes & Seitz Verlag

Marie Luise Knott

370 Riverside Drive, 730 Riverside DriveMatthes & Seitz Verlag, Berlin 2022

145 Seiten

22,00 Euro

Von René Aguigah · 20.08.2022
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Marie Luise Knott erzählt von einer markanten Meinungsverschiedenheit zwischen der Philosophin Hannah Arendt und dem Autor Ralph Ellison im Jahr 1965. Die Themen sind noch heute aktuell. Ein faszinierender Essay.
Eine Straße, zwei Hausnummern, zwei Welten: 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. An der einen Adresse lebte die jüdisch-deutsch-amerikanische Denkerin Hannah Arendt, an der anderen der afroamerikanische Schriftsteller Ralph Ellison.
Obwohl nur wenige Meilen voneinander entfernt, lagen in den 1960er-Jahren kulturell Lichtjahre dazwischen: Upper Westside, das damals noch als jüdisches Einwandererviertel gelten konnte – und Sugar Hill, vormals ein Zentrum der Harlem Renaissance, eines Höhepunkts der afroamerikanischen Kultur.

Harsche Kritik an Arendt — und ein klares Eingeständnis

Marie Luise Knott arbeitet in ihrem Essay „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“ die (Fast-)Begegnung dieser beiden Intellektuellen heraus, die durchaus Nähen zueinander hatten — etwa im Nachdenken über Freiheit —, aber eben nicht in der Sicht auf die konkrete Bürgerrechtsbewegung gegen die Segregation Schwarzer und Weißer in den öffentlichen Schulen der Südstaaten.
Denn so eingehend Hannah Arendt die „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ in ihrem gleichnamigen Hauptwerk analysiert haben mochte, so wenig Verständnis brachte sie in einem Essay für jene schwarzen Familien auf, die 1957 in Little Rock, Arkansas, ihre Kinder auf bis dahin Weißen vorbehaltene öffentliche Schulen schicken wollten — im Einklang mit der Verfassung, aber gegen erbitterten Widerstand der Weißen.
Arendts Essay über Little Rock veranlasste Ellison in einem Interview zu harscher Kritik: Er sprach der Theoretikerin ab, irgendetwas von der Erfahrung afroamerikanischer Eltern zu verstehen – und Arendt gestand per Brief ein: „Ihre Bemerkungen scheinen mir so zutreffend, dass ich jetzt verstehe, dass ich die Komplexität der Lage schlicht nicht verstanden habe.“

Ungebrochene Aktualität

Diese Episode ist nicht neu. Marie-Luise Knott erschließt sie in ihrem aktuellen Essay jedoch mit 17 Hinweisen, wie sie es nennt, und diese ragen bis in die Gegenwart. Knott reichert den Vorfall mit biografischen Informationen an, zieht weitere Autoren zurate (James Baldwin etwa), stellt Fragen und schärft immer wieder die Spannungen zwischen den beiden Helden ihres Essays.
Wie konnte Arendt die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung im Fall von Little Rock derart verkennen? War es ein Fehler, die eigenen Erfahrungen mit Antisemitismus während ihrer Kindheit in Deutschland auf den Rassismus in den USA der Fünfzigerjahre zu übertragen? Wie lassen sich unterschiedliche Gewaltgeschichten überhaupt miteinander in Beziehung setzen — und wie nicht?
Fragen wie die zuletzt genannte sind heute aktuell. Und darin besteht das Faszinierende an diesem Buch: Marie-Luise Knott berichtet von einem Kapitel aus der Ideengeschichte so, dass sie zugleich Fragen berührt, die ganz gegenwärtig drängen.

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