Meinung

"Globaler Süden": Ein problematischer Begriff

04:34 Minuten
Kompass und Karte
Der Terminus "Globaler Süden" hat sich unter postkolonialen Intellektuellen, Kulturschaffenden und an den Universitäten verbreitet. © picture alliance / Zoonar / Ingrid Balabanova
Gedanken von Claus Leggewie · 05.04.2024
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Die Bezeichnung "Globaler Süden" soll auf weltweite Ungerechtigkeit und Ungleichheit verweisen. Der Politologe Claus Leggewie hält den Begriff für problematisch – auch, weil er den Blick auf neue Imperialmächte wie Russland oder China verstellt.
Es ist wohl kaum wiedergutzumachen. Die Erinnerung daran, was Europäer und Nordamerikaner im kolonialen Zeitalter angerichtet haben, sitzt so tief, dass eine politische Koalition gegen den akuten Imperialismus Russlands und Chinas nicht gelingt. Ebenso wenig ein gemeinsamer Widerstand gegen die korrupten Staatsklassen, die sich aus früheren Befreiungsbewegungen entwickelt haben und die heute Freiheit und Gleichheit mit Füßen treten.
Die unseligen US-Interventionen nach 1945, der arrogante Neokolonialismus Frankreichs in Afrika, das Gebaren westlicher Firmen und Agenturen, die Vergeudung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit beherrschen das Bild vom Westen und denunzieren seine Versprechen als große Lüge.
Dagegen steht nun ziemlich geschlossen die Front des „Global South“, des "Globalen Südens". Ein guter Teil der so bezeichneten Länder, das zeigt jede Weltkarte, liegt zwar nördlich des Äquators. Aber der Begriff ist nicht geografisch gemeint, sondern geopolitisch. Die Weltbank benutzte ihn ursprünglich als Sammelbegriff für immer schon höchst unterschiedliche Schwellen- und Entwicklungsländer.

Die „Blockfreien“ wollen sich heraushalten

Zwar haben einige von ihnen Putins „Spezialaktion“ in der UN-Vollversammlung verurteilt, aber die Geschäfte und der diplomatische Verkehr mit Moskau gehen weiter. Die „Blockfreien“, die sich 1955 auf einer Konferenz im indonesischen Bandung gegen die Blockbildung in West und Ost zusammenschlossen, sind keine Kumpane Putins, und sie wollen auch nicht indirekt Kriegspartei werden, indem sie Sanktionen oder Waffenlieferungen unterstützen.
Sie wollen sich heraushalten und den Krieg möglichst rasch enden sehen, weil seine Fortsetzung ihren Interessen entgegenläuft: an sicheren und bezahlbaren Lebensmitteln, an Investitionen und Ausgleichszahlungen im Klimaschutz und so weiter.
Der Vertretung eigener regionaler Interessen und der Festigung einheimischer Autokratien schadet dieser Krieg. Anführer sind die sogenannten BRICS-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, eine geopolitische Allianz des "Global South", die trotz innerer Rivalitäten, zum Beispiel zwischen Indien und China hält.

"Globaler Süden" als neues polemisches Zauberwort

Wo immer man nach der Volksrepublik China fragt, hört man von erpresserischen Geschäften und dreistem Neokolonialismus, doch die Abhängigkeit von chinesischen Investoren wächst.
Dennoch hat sich der Terminus "Globaler Süden" nicht zuletzt auch unter postkolonialen Intellektuellen, Kulturschaffenden und an den Universitäten verbreitet; keine Biennale, keine Konferenz und kein Festival kommen ohne das polemische Zauberwort aus, nunmehr stets gegen Israel und den Westen allgemein gemünzt.
Es hat die Dritte-Welt-Begeisterung der 1960er- und 1970er-Jahre abgelöst. Auch sie wollte herausstreichen, dass es nicht nur Osten und Westen gibt. Man bedachte allerdings nicht, für welche künftigen Diktatoren man sich in Kuba, Algerien, Vietnam, Angola oder Nicaragua einsetzte. Und welche politische, kulturelle und ökonomische Heterogenität die schwammige Kategorie „Dritte Welt“ beinhaltet.

Die neuen Imperialmächte Russland und China

Aus einer nachvollziehbaren antikolonialen und antiimperialistischen Tradition heraus, verschließen viele Kritiker des globalen Nordens (den es übrigens ebenso wenig gibt!) die Augen vor den neuen Imperialmächten Russland und China. Solcherlei Defätismus bezeichnete man schon vor Jahrzehnten als ein selbstmitleidiges „Schluchzen des weißen Mannes“.

Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und Leiter des dortigen Panel on Planetary Thinking. Als freier Autor schreibt er für in- und ausländische Tages- und Wochenzeitungen und den Hörfunk.

Portraitaufnahme des Politologen Claus Leggewie
© Georg Lukas
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