Felix Heidenreich: "Ich erinnere mich noch"

Zufälle, Sehnsüchte und Selbstlügen

08:32 Minuten
Cover von Felix Heidenreichs Roman "Ich erinnere mich noch".
© Wallstein

Felix Heidenreich

Ich erinnere mich nochWallstein, Göttingen 2022

146 Seiten

20,00 Euro

Von Samuel Hamen · 08.08.2022
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Unzählige Romanfiguren blicken zurück auf ihr Leben - auch Dorela in Felix Heidenreichs Debüt "Ich erinnere mich noch". In ihren Erinnerungen beschwört sie die Stimmungen einzelner Lebensabschnitte ebenso wieder herauf wie die Zeitgeschichte.
Der Titel gibt das Programm dieses kurzen Romans vor: Die Erinnerung erschließt uns die Welt, sowohl in ihren epochalen historischen als auch in ihren kleinteiligen privaten Ausmaßen.
In Felix Heidenreichs Debüt wird diese Erinnerungsarbeit von Dorela geleistet, die der Leser in drei Großkapiteln kennenlernt: als Studentin im schweizerischen Fribourg der 1980er-Jahre, gut fünfzehn Jahre später in Graubünden als Lehrerin und Mutter zweier Töchter, und schließlich nochmals fünfzehn Jahre später als Frau Mitte 50.

Persönliche und historische Rückschau

Sie richtet den Blick zurück und verknüpft prägende Episoden und Personen, darunter der bizarre Tod ihres Onkels Durs, der sie ein Leben lang beschäftigt, sowie ein mehrtätiger Ausflug mit ihren Studienliebe Antoine: "Ja, wenn ich mich jetzt erinnere, so denke ich, dass diese Tage in Lourmarin die glücklichsten in meinem Leben waren, dass wir beide damals an einem Ort außerhalb der Zeit waren, außerhalb des Reiches, wie Antoine gesagt hatte."
Felix Heidenreich visiert hier keine große geschichtswissenschaftliche Erkenntnis an, auch wenn seine Erzählerin – eine studierte Sprachwissenschaftlerin – nicht umhinkommt, ihre persönliche Recherche mit akademischen Referenzen auf den Niedergang des Römischen Reiches, auf Theorien über Imperien, die Romane Stendhals und die Entwicklung romanischer Sprache zu verknüpfen. In der Art, wie hier Sprache und historische Rückschau zusammenfinden, erinnert Heidenreichs Text in seinen besten Passagen an die Prosa W. G. Sebalds oder Norbert Gstreins.

Die Träume der Jugend

Die Bilanz, die "Ich erinnere mich noch" zieht, zielt insgesamt nicht auf die These, eher auf die Stimmung ab: Wer sich mit Vergangenheiten beschäftigt – sei es mit jenen offiziellen der Nationen, Landessprachen oder Literaturen, sei es mit jenen intimen der Familie und der Liebe –, dem offenbaren sich die blinden Flecken und Zufälle, Sehnsüchte und Selbstlügen gelebter Leben.
Das gilt für Dorela und ihr Sinnen über verpasste Chancen und für Antoine, der seinen Lebensentwurf am Mittelmeer-Pathos Albert Camus' ausrichtet. Das gilt ebenso für Durs, dessen Nachlass ein Rätsel bleibt, das die Erzählerin und ihr Mann Thomas als Laiendetektive nicht lösen können. Auch Dorelas Bruder Mathis, der "wie ein junger Bonaparte" nach Basel gezogen war und später "verwirrt, leer, entwurzelt" nach Graubünden zurückkehrt, wird auf diese Weise porträtiert.

Die Konfrontation bleibt aus

So bleiben Figuren wie Leser zurück mit einem Mischgefühl aus Resignation und Nostalgie, aus Trotz und Bejahung. Es ist ein sentimentales Gefühl, das keine erzählerische oder wissenschaftliche Methodik aufzuklären vermag, auch wenn beide bemüht werden, um den Schleier zu lichten, der den Roman einhüllt.
Die eingetrübte Zärtlichkeit seines Personals und der Landschaften, in denen es unterwegs ist, hat Felix Heidenreich eindrücklich eingefangen. Vor allem zum Ende hin hätte man sich aber gewünscht, dass der Autor konfrontativer gewesen wäre – sich selbst und seinen Figuren gegenüber. So hätten sich die Konflikte aus ihren halb ausgesprochenen Schwebezuständen zerren lassen.
Auch die Art und Weise, wie die gealterte Erzählerin ihre Rückschau an kulturkritische Beobachtungen über eine angebliche Verschlechterung der Lage in Europa und anderswo koppelt, hätte man dadurch die elegische Selbstgefälligkeit genommen.
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