Tine Høeg: "Tour de Chambre"

Sprunghafte Suche nach blinden Flecken

05:25 Minuten
Eine bunte Grafik mit Buchtitel und Namen der Autorin
© Droschl Verlag

Tine Høeg

Aus dem Dänischen übersetzt von Gerd Weinreich

Tour de ChambreDroschl, Graz 2022

298 Seiten

Von Stefan Mesch · 12.07.2022
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Eine tödliche Party im Wohnheim: Tine Høegs Roman „Tour de Chambre“ zeigt, wie zwei Freundinnen zehn Jahre nach dem Studium mit der Erinnerung umgehen. Kraftvoll und in schnellen Cuts erzählt wie ein Wasserfall – oder ein Verlauf von Messages.
300 Seiten große Literatur – doch binnen drei Stunden mühelos gelesen: Tine Høegs Romane sparen sich lange Sätze. Nach jeder Idee, nach jeder neuen Information oder „Sinneinheit“ drückt Høeg die Enter-Taste: Sprung, Zeilenumbruch, neuer Absatz.
So passen auf jede Buchseite nur 20 bis 25 luftige, oft kurze Zeilen. Viele Szenen sind nur vier, fünf Sätze lang. Oft zeigt eine Seite sogar nur einen Satz – meist eine Kurznachricht, auf die keine Antwort kommt. Papierverschwendung? Nein.
Denn Asta ist 33 – eine Schriftstellerin, die genau, aber sprunghaft und nervös nach Übersehenem sucht, nach Rissen und blinden Flecken. Ihre einzige enge Freundin Mai ist alleinerziehende Mutter, und Asta überlegt viel, was sie als Kunstschaffende beitragen und ändern kann.

Jedes Zimmer steht unter einem anderen Motto

Vor zehn Jahren lebten Mai und Asta auf derselben Etage eines Wohnheims, teilten die Küche und feierten mit vier, fünf anderen Parteien eine „Tour de Chambre“. Bei dieser skandinavischen WG- und Uni-Tradition steht jedes Zimmer unter einem anderen Motto, die Gemeinschaft zieht von Raum zu Raum, kriegt Häppchen und spielt möglichst kreative Trinkspiele.
Für Asta ist der Abend wichtig, weil die Mutter ihres Schwarms als Künstlerin eine begehbare Installation entwarf, die von Raum zu Raum überwältigender, selbstbewusster wurde. Zehn Jahre später arbeitet Asta in einer Künstlerresidenz am zweiten Buch – und schaut auch dort durch Räume und Menschen wie in kleine Wunderkammern.

Luftiges Satzbild, Raum für Ungesagtes

„Tour de Chambre“ nutzt die Techniken der beliebten amerikanischen „Novels in Verse“. Schon US-Lyrik ist oft deutlich weniger interessiert an Versmaß, Reimen und daran, formale Muster konsequent und „sauber“ durchzuspielen. Viel öfter wird geplaudert, erzählt, geklagt und triumphiert in luftigen, nicht-reimenden, flatterig ausfransenden Texten, deren Satzbild Raum fürs Ungesagte lässt.
In Versen geschriebene Jugendbücher von Ellen Hopkins, Kwame Alexander oder Jason Reynolds erzählen oft tragische Geschichten im Stil ernster Slam Poetry: Können Romane Lyrik sein? Oder ist das „nur“ Erzählliteratur, die sich an Layouts und Oberflächen von Lyrik bedient, um Sätzen mehr Hallraum, Wucht zu geben?
Häppchen und Absätze entwickeln das Tempo und den Lesefluss von Dialogen und Monologen auf WhatsApp: Kaskaden und Wasserfälle. Zugleich aber hat dieser Lesefluss überraschende Klippen. Denn bei jedem Satz muss neu abgeleitet werden, wer ihn sagt und wo.
Wörtliche Rede ist nicht durch Anführungszeichen markiert – und ob Icherzählerin Asta gerade als melancholische Erwachsene schreibt oder beeindruckt, lebenshungrig und verknallt im Wohnheim zehn Jahre zuvor, bleibt oft viele Sätze lang in toller Schwebe.

Erinnerung an den verstorbenen Mitbewohner

Asta selbst verbuchte die Zeit damals als besonders dunkles Kapitel, weil ein Mitbewohner während der Tour der Chambre starb. Doch heute bei den Vorbereitungen zu einer geplanten 10-Jahres-Feier hilft Mai, Astas Schuldgefühle zu hinterfragen.
„Tour de Chambre“ feiert jeden einzelnen Satz als kraftvolle, kleine Sprengladung: ein warmherziger, nostalgischer Roman, der sich die etwas platten Wendungen aus Høegs recht ähnlichem ersten Buch ("Neue Reisende“ von 2017) spart. Er wirft besonders die Generation „Neon“ zurück in die Zeit vor über zehn Jahren, als sie im Freundeskreis Serien wie „Lost“ sah und Bekannte neu auf Facebook entdeckte.
Ein einladender Text über Verlust, Kreativität und Staunen – der zeigt, wie wenige, schlichte Worte oft große Bilder wachsen lassen, beim Lesen.
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