Patrick Modiano: „Unterwegs nach Chevreuse“

Fragmente der Erinnerung

06:24 Minuten
Buchcover: "Unterwegs nach Chevreuse" von Patrick Modiano
© Hanser Verlag

Patrick Modiano

Elisabeth Edl

Unterwegs nach ChevreuseHanser, München 2022

160 Seiten

22,00 Euro

Von Dirk Fuhrig  · 23.07.2022
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Der Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano holt in seinem Roman „Unterwegs nach Chevreuse“ verschollen geglaubte Ereignisse ans Licht. Sie führen in eine Jugend auf dem Land und wieder einmal in die französische Nachkriegszeit.
Die „Chevreuse“ ist eine Landschaft etwa 30 Kilometer von Paris, Richtung Südwesten. Am Rande dieses Naturparks hat Patrick Modiano einen Teil seiner – sehr schwierigen, oft einsamen – Kindheit und Jugend verbracht. In der Kleinstadt Jouy-en-Josas gibt es eine „Rue du Docteur Kurzenne“. Diesen Straßennamen hat sich Modiano für seinen Roman ausgeborgt, in dem das Haus mit der Nummer 38 eine tragende Rolle spielt. Vermutlich wurde die Beute eines Verbrechens in einer Wand eingemauert.
Zwischen diesem mittlerweile leer stehenden Gebäude und einer großbürgerlichen Wohnung im Pariser Stadtteil Auteuil springt die Erzählung hin und her. Modianos Held Jean Bosmans ist etwa 20 Jahre alt, als er Camille kennenlernt, die ihn wiederum mit zwei undurchschaubaren Typen bekannt macht, die ihn immer wieder nach dem Haus auf dem Land fragen – und schließlich sogar bedrohen.

Von der Vergangenheit getrieben

Jahre später verfasst Jean Bosmans einen Roman über all diese Ereignisse aus verschiedenen Phasen seines Lebens, an die er sich nur schwach erinnert: „Das Schwarz des Sommers“. Die glühenden August-Temperaturen in einem billigen Hotelzimmer in Paris bringen ihn einen Schreibmodus. Hitze, Kühle, Sonne, Strand – die durch das Wetter hervorgerufenen körperlichen Empfindungen fügen diesem geheimnisvoll flirrenden Text eine sinnliche Ebene hinzu.
Modianos – in der Tradition von Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ stehende – Sucht, sich ständig Details aus der Vergangenheit ins Bewusstsein zu rufen, hat häufig fast schon etwas Zwanghaftes, Neurotisches. Modianos Figuren sind, wie auch hier dieser Jean Bosmans, von Phantomen getrieben, die ihnen den Schlaf rauben und von ihren Träumen Besitz ergreifen.

Nachkriegszeit im Werk Modianos

Bosmans fragmentarische Erinnerungsfetzen greifen zurück bis in die unmittelbare Nachkriegszeit, als er ein kleines Kind war; dann ist er 20 Jahre alt und wenige Seiten weiter sind 50 Jahre vergangenen und wir befinden uns fast in der Gegenwart. Modiano schiebt Epochen übereinander wie tektonische Platten, die sich aneinander reiben und beim Auseinanderreißen heftige, aber kurze Beben der Erinnerung auslösen.
„Rückkehr nach Chevreuse“ ist vielleicht nicht der stärkste Roman von Patrick Modiano – zumal wenn man ihn mit „Place de l’Étoile“ von 1968 vergleicht. Dieses in Deutschland wenig beachtete Buch – der „Platz des Sterns“ ist der am Arc de Triomphe in Paris, aber auch die Stelle am Körper, an die der Judenstern geheftet werden musste –, war eine aggressive Abrechnung mit der Kollaboration der Franzosen mit den Nationalsozialisten.
Gerade jetzt, um den 80. Jahrestag der berüchtigten „Rafle du Vel d’Hiv“, der von der französischen Polizei organisierten Razzia, bei der Zehntausende Juden im Radsportstadion zusammengetrieben und anschließend deportiert wurden, bekommt Modianos damals als Skandal empfundener Debüt-Roman eine finstere Aktualität.

Spannungsgeladen, bedrohlich, unheimlich

Im neuen Roman ist die Nachkriegsgeschichte hingegen nur andeutungsweise (er-)spürbar. „Rückkehr nach Chevreuse“ ist ganz dem komplizierten Vorgang der Erinnerung und deren sprachlicher Umsetzung gewidmet. Und der große Stilist Modiano schafft es auch hier wieder, einen beim Lesen sofort hineinzuziehen in diese sich sacht vorantastende Sprache.
Stets ist man in Erwartung, dass sich im nächsten Satz, im nächsten Wort, ja – der nächsten Silbe die entscheidende Katastrophe vollzieht; bedrohlich, extrem spannungsgeladen, fast unheimlich ist der Ton, der die Texte des Nobelpreisträgers zu echten Kriminalgeschichten macht. Aufregende Sprachkunstwerke sind das. Man könnte auch sagen: toxische Erinnerungskrimis.

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