Emmanuel Carrère: „Yoga“

Spöttischer Ego-Trip durch Seele und Welt

06:41 Minuten
Buchcover von "Yoga" von Emmanuel Carrère
© Matthes & Seitz

Emmanuel Carrère

Aus dem Französischen von Claudia Hamm

YogaMatthes & Seitz, Berlin 2022

341 Seiten

25,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 04.03.2022
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Yoga als Mittel gegen die Depression: Emmanuel Carrère denkt über sich selbst im emotionalen Ausnahmezustand nach. Er landet nicht nur bei der eigenen Seele, sondern auch in den Abgründen der Flüchtlingskrise.
Nach seiner pointierten, ironischen Erkundung der Grundlagen des Christentums in „Das Reich Gottes“ hat Emmanuel Carrère nun „Yoga“ und die Kunst der Meditation literarisch bearbeitet.
Der Roman beginnt in einem Seminarzentrum am Rande einer Kleinstadt, anderthalb Regionalbahn-Stunden südöstlich von Paris. Der Ich-Erzähler – in diesem Fall darf man getrost sagen: Emmanuel Carrère – schildert die Atmosphäre in diesem Sinnsucher-Camp, aus dem die Alltagswelt in Form von Fernsehen oder Smartphone komplett ausgesperrt ist, mit süffisanter Respektlosigkeit. Er amüsiert sich über Bäumeumarmer und „Bartundsandalentragendevegetarieryogis“, vor allem aber über sich selbst, den alternden Schriftsteller in einer Lebenskrise.

Terror und Trauer zehren am Autor

Das Attentat auf Charlie Hebdo unterbricht die Meditationsklausur für ihn jäh. Denn Bernard Maris, eines der Opfer, war ein Freund des Schriftstellers. Danach verfällt der Erzähler in eine tiefe Depression. Die Ärzte diagnostizieren eine bipolare Störung und weisen ihn in eine psychiatrische Anstalt ein, wo er sich mit Stromstößen gegen die existenzvernichtende Krankheit behandeln lässt.
Ob der Terror oder die Trennung von seiner Frau Hélène Devynck der Auslöser dafür war, bleibt für den Leser unklar. Denn vermutlich musste Carrère im Zuge einer juristischen Auseinandersetzung mit seiner Ex-Gattin zahlreiche Passagen streichen.

Emotionales Verständnis für Flüchtlinge

Als es dem Protagonisten Monate später etwas besser geht, reist er auf eine griechische Insel, wo er ein Haus besitzt. Auf der Nachbarinsel Leros sind – es ist das Jahr 2015 – Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan eingetroffen. Der Erzähler kümmert sich um eine Gruppe von Jugendlichen, die er ähnlich seelisch verzweifelt vorfindet wie sich selbst. Dadurch relativiert sich sein persönliches Elend.
Die Dinge sind ernst, sehr ernst – die Weltlage und der Zustand seines Gemüts. Doch die radikale Introspektion, die auch vor der Beschreibung intimster Ängste und Verzweiflung nicht Halt macht, kommt lakonisch, scheinbar kühl und sachlich daher.
Carrère ist ein extrem genauer Beobachter, der schon Sozialreportagen aus Armenvierteln in den USA („Julies Leben“) und über den "Migranten-Dschungel“ in Calais verfasst hat. Die literarische Kraft dieses ausschließlich mit dem rechten Zeigefinger tippenden Schriftstellers – so erfahren wir in einer köstlichen Passage – liegt darin, sich selbst stets aus einer gewissen Distanz zu sehen und zu sezieren.

Persönlicher Text, großartige Übersetzung

Auch wenn Carrère zuvörderst über seine psychische Labilität schreibt, ist seine Sprache nicht im Geringsten wehleidig. Das Kreisen um den Bauchnabel reichert er mit Anmerkungen über Kunst, Wissenschaft und Philosophie an.
Nietzsche und Schopenhauer, Montaigne, Flaubert und Roland Barthes, van Gogh und Stephen Hawking schwirren durch den Text, der ein gelehrtes, mitunter ganz schön bildungseitles Namedropping ist.
„Yoga“ ist der bislang persönlichste Text dieses Meisters der Vermessung des eigenen Egos. Er ist abgründig, aber nicht finster, vielmehr oft zum Lachen. Und Claudia Hamm hat den selbstironischen Ton dieses großartigen Stilisten im Deutschen auf wunderbare Weise nachvollziehbar gemacht.
Emmanuel Carrère liest sich ganz ähnlich trocken, bissig und spöttisch wie der zweite Gigant der französischen Gegenwartsliteratur, Michel Houellebecq (auch wenn der nie „Ich“ schreibt). Houellebecqs jüngster Roman „Vernichten“ wirkte eher flau und leicht abgestanden, Carrères „Yoga“ ist ein berührender, frischer, mitreißender Text.

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