Michel Houellebecq: „Vernichten“

Matte Politsatire ohne jedes Prickeln

06:12 Minuten
Cover des Buchs "Vernichten" von Michel Houellebecq.
© Dumont

Michel Houellebecq

Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek

VernichtenDumont Buchverlag, Köln 2022

624 Seiten

28,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 11.01.2022
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Mit Spannung erwartet, jetzt die Enttäuschung: Der neue Roman von Michel Houellebecq lässt sich zwar zügig weglesen, ist aber wenig aufregend.
"Vernichten" - ein martialischer Titel, der ein radikales, womöglich gewalttätiges, aber zumindest gewaltiges Werk erwarten lässt. Was es mit 734 Seiten im französischen Original und immerhin noch 624 Seiten in der deutschen Übersetzung äußerlich auch ist. Mehr Text hat Michel Houellebecq noch nie in einen Roman gepackt.
Umso größer die Enttäuschung, wenn man diesen Wackerstein von Buch durch hat. Auch wenn sich die vielen Sätze dank Houellebecqs routiniert flotter Schreibweise zügig weglesen lassen: Es bleibt das Gefühl, dieser großartige Schriftsteller, der wie kein anderer seit mehr als zwei Jahrzehnten die Gegenwart und Zukunft unserer Zivilisation, ja der menschlichen Existenz so hellsichtig seziert, sei - jedenfalls temporär - an einem literarischen Tiefpunkt angelangt.

So weit, so erwartbar

Houellebecqs Markenzeichen, das treffsichere Aufgreifen der gesellschaftlichen Stimmung: hier weitgehend Fehlanzeige. Auch wenn die Rahmenhandlung im Milieu der Politik spielt, 2027, wenn wieder Präsidentschaftswahlen in Frankreich anstehen. Der Roman geht davon aus, dass im April 2022 erneut Emmanuel Macron gewinnt. Ein drittes Mal darf er aber nicht kandidieren, so dass ein Finanzminister namens Bruno Juge zur zentralen Figur in Frankreichs Machtapparat wird - ein agiler Stratege, der sich ohne Weiteres als Bruno Le Maire dechiffrieren lässt, der aktuelle Finanzminister, mit dem Houellebecq offenkundig befreundet ist.
Die Anmutung eines an die Aktualität geknüpften Schlüsselromans wäre nicht weiter tragisch, wenn Houellebecq daraus eine prickelnde Story entwickeln würde. Doch der Wahlkampf, inszeniert von einer durchgeknallten Power-Campaignerin, mündet ein weiteres Mal in einen knappen Sieg des bürgerlich-liberalen Lagers gegen Marine Le Pens Nationalisten. So weit, so erwartbar. Eric Zemmour, der neue Gottseibeiuns der französischen Rechten, wird nur ein einziges Mal namentlich erwähnt; das ist wiederum überraschend.

Ökofaschistische Antikapitalisten

Die unheimlichen Anschläge durch Terroristen - die Handelsschiffe, eine Samenbank und schließlich ein Flüchtlingsboot in die Luft sprengen und ihre Taten im Internet viral verbreiten - hätten Potenzial für einen dystopischen Thriller. Ratlose Geheimdienstler spekulieren über ökofaschistische Antikapitalisten, aber auch dieses ja durchaus nicht unplausible Bedrohungsszenario wird nicht ausgereizt. Nur am Rande wird geraunt, eine nihilistische Sekte aus den USA könnte etwas damit zu tun haben.
Michel Houellebecq sitzt mit genervtem Gesichtsausdruck auf einem Podium
Michel Houellebecqs Roman "Vernichten" lässt die Stärken des Schriftstellers vermissen.© Imago / Starface / Barbara Neyman
Die Hauptfigur Paul Raison, rechte Hand des Ministers, reist in sein Heimatdorf im Beaujolais, als sein Vater nach einem Schlaganfall ins Pflegeheim kommt. Das Stadt-Land-Gefälle beschäftigt Houellebecq schon lange. Hier wird nun kurz das verrottete Gesundheitssystem angeprangert, bevor es um die nostalgische Rückbesinnung dieses an Eliteschulen ausgebildeten Pariser Spitzenbeamten geht. Paul entdeckt verschollene Gefühle für seine Verwandten in der Provinz, die ganz selbstverständlich Le Pen wählen.

Existenzielle Verdichtung

Dann bekommt Paul Raison Zahnschmerzen, die sich als unheilbarer Mundkrebs entpuppen. An dieser Stelle, kurz vorm Schluss, wird der Roman plötzlich interessant. Houellebecq schildert das Siechtum des Krebspatienten in plastischer Eindringlichkeit. Krankheit und Tod werden thematisiert, Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Wert von Beziehungen und Liebe gestellt.
Diese packende existenzielle Verdichtung im letzten Viertel macht erst recht deutlich, wie wenig zielgerichtet und stringent der Roman insgesamt gebaut ist. Die Erzählstränge Politthriller, Cyberterrorismus, Familiengeschichte, Beziehungsdrama und Todeserfahrung kommen nicht wirklich zusammen, sondern plätschern nebeneinander her.

Oralsex interruptus

Stilistisch fehlt es dem Buch an der Houellebecqschen Grundmelancholie: die elegante Rotzigkeit, die freche Lust am politisch Unkorrekten, an der Provokation. Das gilt auch für die berüchtigten „Stellen“, die sich diesmal mehr oder weniger auf eine einzige beschränken: Oralsex interruptus, als sich die von Paul zu einem Höchstpreis gekaufte Prostituierte als seine attraktive, lässige junge Nichte entpuppt, die mit sexueller Dienstleistung ihr teures Studium in Paris finanziert.
Ich habe "Elementarteilchen" und "Ausweitung der Kampfzone" seinerzeit als Offenbarung verschlungen, "Plattform" und "Unterwerfung" als grandiose Gesellschaftssatire gefeiert und bei der verzweifelten Tragikomödie "Serotonin" atemlos mitgefiebert. Im Vergleich zu Michel Houellebecqs früheren Romanen wirkt "Vernichten" fade, matt und milde. Soll man sagen: altersmilde?
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