Kommentar zum Verhältnis von Mensch und Natur
Die Natur hat Rechte. Diese ist Idee ist deswegen so bemerkenswert, weil sie Natur um ihrer selbst willen ins Zentrum stellt, schreibt Fritz Habekuß. © picture alliance / AP Photo / Niranjan Shrestha
Zeit für mehr Zärtlichkeit
Die Natur hat eigene Rechte - diese Idee greift um sich. In ihr liege große Kraft, betont der Wissenschaftsjournalist Fritz Habekuß. Denn sie verschiebe den Blick und helfe bei der Vorstellung von einer anderen Welt, in der die Natur geschützt wird.
Stellen Sie sich das einmal vor: Der Ganges, der dreckigste Fluss der Welt, zieht vor Gericht gegen all jene, die ihn vergiften. Der Amazonas wehrt sich juristisch gegen die Holzfäller und Brandstifter, die ihn roden und anzünden. Das Wattenmeer klagt die Schleppnetzfischer an, deren Netze seinen Boden umpflügen.
Zugegeben: Das klingt zwar irgendwie gut – aber auch ziemlich weit hergeholt. Es könnte sein, dass sich das bald ändert. Denn in der Welt der Gerichte, Gesetzestexte und Parlamente spielt sich gerade eine Revolution ab. Eine mit der Kraft, das Verhältnis von Mensch und Natur grundsätzlich in Frage zu stellen: Die Natur soll eigene Rechte bekommen.
Die Revolution begann in Ecuador
Begonnen hat diese Revolution im Jahr 2008. Damals änderte Ecuador seine Verfassung. Seitdem ist Pachamama, Mutter Erde, eines der Leitprinzipien des Landes und die Natur nicht nur ein Objekt, sondern Trägerin subjektiver Rechte.
Auch in Kolumbien ist ähnliches passiert. In beiden Ländern kam der Impuls aus indigenen Communities. Nicht, weil diese bessere Menschen sind, sondern weil das Leben mit der Natur für sie und ihre Vorfahren die Voraussetzung war, um zu überleben.
Dass Flussmündungen, Seen oder Berge belebt und beseelt sind und geschützt werden müssen, ist in vielen indigenen Kosmologien selbstverständlich. Aber in der westlichen, mehrheitlich christlich geprägten Welt tut man sich schwer damit, der Natur um uns herum ein Eigenleben zuzusprechen. So sind dann auch unsere Gesetze geschrieben: Natur im juristischen Sinne ist kein Subjekt. Sie ist eine Sache, die man ausbeuten kann.
Mehr als ein Haufen unbelebter Materie
Das drückt sich schon in der Sprache aus. Wir sagen “Ökosystemleistungen” und “Ressourcenmanagement”, wenn wir über Natur sprechen, bezeichnen unsere “Mitwelt” als “Umwelt”, als hätte das ganze Leben um uns herum mit uns selbst nichts zu tun. Dabei häufen sich in der letzten Zeit wissenschaftliche Erkenntnisse, die das Gegenteil zeigen: Schimpansen empfinden Eifersucht, Hummeln können optimistisch sein und Sumpfkrebse Angst vor der Dunkelheit haben.
Doch die Idee, dass da mehr sein könnte als nur ein Haufen unbelebter Materie, ist so mächtig, dass sie auch in Europa Fuß fasst. In Bayern wirbt eine Initiative für ein Volksbegehren, das der Natur Rechte geben will.
Der unter Emmanuel Macron geloste, französische Klima-Bürgerrat forderte, die Umwelt mit in die Verfassung aufzunehmen und den Ökozid – die massenhafte Zerstörung von Natur – zu einem Straftatbestand zu machen. Dafür wirbt auch die NGO “Stop Ecocide” mit Ablegern in verschiedenen europäischen Ländern.
Bemerkenswert ist die Idee vor allem deshalb, weil sie Natur um ihrer selbst willen ins Zentrum stellt - und nicht nur die Folgen für den Menschen. Sowohl der UN-Generalsekretär António Guterres als auch der Papst lobten die Idee öffentlich. Tatsächlich verhandelt die Europäische Union gerade darüber, Umweltstraftaten in eine neue Richtlinie mit aufzunehmen. Es wäre ein großer Schritt.
Eine andere Welt vorstellen
Doch käme er schnell genug, um die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen aufzuhalten? Bis solche Gesetze nicht nur geschrieben, sondern debattiert, verabschiedet und in die jeweiligen Rechtssysteme integriert sind, dauert es lange, wohl zu lange.
Vielleicht liegt die große Kraft der Idee daher an anderer Stelle: Allein die Frage zu formulieren, ob und welche Rechte ein Fluss, ein Wald, ein Meer haben, verschiebt den Blick – sie hilft, sich eine andere Welt vorzustellen.
In “Die Abstammung des Menschen” schrieb Charles Darwin, dass der Mensch im Laufe seiner Geschichte seine Moral ausgeweitet habe. Erst erstreckte sie sich nur auf einen Menschen und seine engste Familie. Dann aber wurden “seine Sympathien zärtlicher”, so Darwin, und schloss Menschen mit Behinderung, Versehrte und Tiere ein. Vielleicht zeigt die Debatte um die Rechte für die Natur: Es ist Zeit für noch mehr Zärtlichkeit.
Fritz Habekuß, Jahrgang 1990, ist Redakteur und Korrespondent der ZEIT. Er berichtet in seinen Reportagen weltweit über Umwelt- und Klimathemen, das Anthropozän sowie das Verhältnis von Mensch und Natur. Er ist außerdem Moderator und Gastgeber der Reihe "Entering the Anthropocene", organisiert die "Lindenberger Frühlingskonzerte" in seinem Heimatdorf in Brandenburg und ist Co-Autor des Sachbuch-Bestsellers "Über Leben".