Blinde Flecken des Wissenschaftsjournalismus

Unsichtbar in Mexiko

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Illustration zur Folge 1 - Mexiko aus der Reihe "Blinde Flecken" im Studio 9.
Die Illustration stammt aus dem Sammelband "Unbias The News – Warum Journalismus Vielfalt braucht" von Hostwriter, erschienen im CORRECTIV-Verlag. © Moshtari Hilal
Von Laura Vargas-Parada und Tabea Grzeszyk · 07.09.2020
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Englisch ist die Sprache der Wissenschaft. Forscherinnen und Forscher aus Mexiko und Lateinamerika werden deshalb oft einfach ignoriert – sogar von den eigenen Medien. Dagegen kämpft die mexikanische Journalistin Laura Vargas-Parada.
Ich bin mit der mexikanischen Wissenschaftsjournalistin Laura Vargas-Parada zum Videochat verabredet. Es ist 17 Uhr deutsche Ortszeit, 10 Uhr morgens in Mexiko. Bevor wir mit dem Interview loslegen, hat Laura eine Bitte: Sie möchte das Interview auf Englisch führen.
"Das ist die Sprache der Wissenschaft. Wenn du möchtest, dass die Welt weiß, was du machst, dann musst du auf Englisch arbeiten. Und wenn du als Wissenschaftsjournalistin oder Journalist international und nicht nur aus deinem Land berichten willst, musst du Leute aus der ganzen Welt interviewen – in englischer Sprache."
Auf Englisch kommunizieren oder unsichtbar bleiben – das sind die beiden Optionen im internationalen Wissenschaftsbetrieb, berichtet Laura Vargas-Parada.

Forschung aus Sicht des Westens

Diese schmerzhafte Erfahrung haben auch die mexikanischen Beteiligten des vielleicht berühmtesten Forschungsprojekts auf mexikanischem Boden gemacht: der legendären "Expedition 364", bei der ein internationales Forschungsteam im Jahr 2016 den Chicxulub-Krater vor der Yucatán-Halbinsel untersuchte. Dort schlug vor 66 Millionen ein Meteorit ein, der 75 Prozent des Lebens auf Erden auslöschte – darunter das der Dinosaurier.
"Um den Bohrkern zu entnehmen, brauchten sie Leute aus England und anderen Ländern. Als dann die internationale Presse hierherkam, dachten sie sofort, dass die Europäer das Projekt leiteten, nicht die Mexikaner", erinnert sich Vargas-Parada. "Daher haben die meisten Magazine die Geschichte aus Sicht der ausländischen Forschenden dargestellt. Obwohl das alles in Mexiko passierte und die karibischen und mexikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler maßgeblich beteiligt waren, wurden sie nicht gefragt."

Langsam regt sich Widerstand

Sind das koloniale Attitüden? Wird mexikanischen Forscherinnen und Forschern nicht zugetraut, wissenschaftliche Erkenntnisse zu präsentieren? An fehlenden Englischkenntnissen habe es nicht gelegen, meint Laura Vargas-Parada – auch wenn sich solche Vorurteile hartnäckig halten.
"Manchmal wird offenbar befürchtet, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Mexiko oder anderen lateinamerikanischen Ländern nicht gut genug Englisch sprechen. Deshalb greifen sie lieber auf Kolleginnen und Kollegen aus westlichen Ländern zurück."
Doch Laura Vargas-Parada beobachtet auch einen Wandel. Als ein Jahr später bei einer Studie unter mexikanischer Federführung über vom Aussterben bedrohte Primaten ausschließlich westliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zitiert werden, regt sich Widerstand.

"Uns fehlt oft der Mut, unsere Stimme zu erheben"

"Es gibt einen sehr berühmten Wissenschaftsjournalisten der New York Times, Carl Zimmer. Er schrieb einen Artikel über eine Studie, die von einem Mexikaner geleitet wurde, doch es kamen ausschließlich US-Amerikaner zu Wort. Ein mexikanischer Freund von mir hat ihn auf Twitter angeschrieben." Und Carl Zimmer hat geantwortet: "Das Pressematerial sagt, man solle Dr. Rylands und Mittermeier kontaktieren. Aber Sie sprechen einen wichtigen Punkt an."
Die Journalistin fährt fort: "Westliche Länder glauben oft, sie besäßen das Wissen. Sie sind etwas ignorant: Sie glauben, dass sie alles wissen und dass die anderen nicht wissen. Das ist die eine Seite des Vorurteils. Auf der anderen Seite fehlt uns oft der Mut, unsere Stimmen zu erheben. Wir trauen uns nicht, auf Medien zuzugehen und zu sagen: Ich habe etwas zu sagen! Ich habe eine Story! Ich war beteiligt! Wenn wir ohne Vorurteile berichten wollen, müssen beide Seiten dieses Problem anerkennen und versuchen, es zu lösen."
Zuhören, die andere Perspektive wahrnehmen. Das müssen für Laura Vargas-Parada alle Journalistinnen und Journalisten noch lernen.

Dies ist der Auftakt zu der Serie "Blinde Flecken des Journalismus weltweit" im Rahmen der Denkfabrik "Dekolonisiert euch!": Vom 7. bis zum 12. September senden wir jeden Tag um 8.40 Uhr in "Studio 9" einen Beitrag, der Journalismus und dessen Versäumnisse und "blinde Flecken" in jeweils einem anderen Land thematisiert.

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