Blinde Flecken beim Datenschutz in China

Vorsicht, Kulturbrille!

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Eine Illustration zur Folge 2 über China aus dem Sammelband »Unbias The News – Warum Journalismus Vielfalt braucht« von Hostwriter, das im CORRECTIV-Verlag erschienen ist.
Illustration aus dem Sammelband "Unbias The News – Warum Journalismus Vielfalt braucht", erschienen im CORRECTIV-Verlag. © Moshtari Hilal
Von Qian Sun und Tabea Grzeszyk · 08.09.2020
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Wir Deutschen geben nur ungern unsere Daten preis, weil wir unsere Privatsphäre schützen wollen. Warum viele Chinesinnen und Chinesen mit ihren persönlichen Daten ganz anders umgehen, erklärt die chinesische Reporterin Qian Sun.
"Mein Name ist Qian Sun und ich bin 32 Jahre alt."
Ich heiße Tabea Grzeszyk und bin 40 Jahre alt. Qian hat recht: Mein Alter würde ich normalerweise nicht erwähnen. Das ist privat und geht niemanden was an!
"Wenn ich einen deutschen Freund oder eine deutsche Freundin zurück zu meiner Familie bringen würde, alle Familien würden fragen: ‚Wie viel verdienst du jeden Monat?' Und: ,Bist du schon verheiratet?’, ‚Wie viele Kinder hast du?' In den ersten fünf Minuten, auf jeden Fall."

Daten schützen – in Deutschland wichtig

Persönliche Daten in China und Deutschland – der Umgang könnte kaum unterschiedlicher sein. Wenn ich als Deutsche an Datenschutz denke, denke ich an die Lehren aus dem Nationalsozialismus, an die DDR, an staatliche Überwachung und Gleichschaltung.
Ganz anders denkt Qian Sun: "Datenschutz kommt zu mir auf Englisch oder Deutsch und dann muss ich übersetzen, was es bedeutet. Das ist etwas, das die Chinesen importiert haben. Das ist so ein unoriginal-chinesisches Wort für mich!"

Viele Chinesen vertrauen ihrer Regierung

"Was meinst du, woran liegt das? Woher kommt es, dass in China weniger das Bedürfnis besteht, Daten schützen zu müssen?"
"Ich glaube, die Leute haben so viel Vertrauen in die Regierung. Die Aufgabe der Regierung ist, das Publikum zu schützen. Und um besser zu schützen, muss das Publikum die persönlichen Daten abgeben. Sie denken, es ist besser, meine Informationen sind alle in den Händen der Regierung."
Seit fünf Jahren lebt Qian Sun in Berlin. Sie berichtet für chinesische Fernsehsender und deutsche Magazine. Wenn Redaktionen in Deutschland bei Technologien made in China als Erstes nach Datenschutz und Menschenrechten fragen, würden sie eines vergessen, meint Qian. Anders als in Deutschland hätte der Verlust ihrer Privatsphäre Millionen von Chinesinnen und Chinesen vor allem eines gebracht: eine gewaltige Verbesserung der Lebensqualität.

Keine Privatsphäre auf 15 Quadratmetern

Qian Sun ist in den 1980er-Jahren in einer Arbeitersiedlung in Tai’yan aufgewachsen, einer Vier-Millionen-Stadt in der Provinz Shanxi. Ihre Eltern haben ein Video ihrer Wohnung aufgenommen, 15 Quadratmeter für einen Drei-Personenhaushalt. Privatsphäre? Nicht vorhanden. Die chinesischen Schriftzeichen für Privatsphäre haben eine negative Bedeutung, anders als das deutsche Wort.
"Privatsphäre auf Chinesisch, es gibt zwei Charaktere zusammen und die präsentieren dann Privatsphäre, es heißt Yin-Si. Wir sprechen über etwas, was persönlich ist und was die Leute verbergen möchten", erläutert Qian Sun.
Heute leben Qians Eltern auf 100 Quadratmetern, ihre alte Wohnung bieten sie gerade zur Miete an. Die chinesische Erfahrung: Ich habe nichts zu verbergen und tausche meine persönlichen Daten gegen Sicherheit und Wohlstand. Der Tausch lohnt sich, das Leben wird immer besser.
"Viele Leute fühlen sich okay, die Daten abzugeben an die Regierung", bestätigt Qian Sun. "Wenn es geht um den Tausch von Privatsphäre und Personaldaten zu Komfort und Effizienz – viele Chinesen stehen bereit dafür. Wenn etwas helfen kann, schneller und effizienter etwas zu machen, sie würden das benutzen, zum Beispiel Apps und Online-Tools und so weiter."

Eine Recherche, zwei unterschiedliche Geschichten

Die deutsche Erfahrung ist eine ganz andere. Wenn Begriffe so unterschiedliche Kontexte haben – kann man dann überhaupt einen journalistischen Artikel schreiben, der in China und in Deutschland verstanden werden kann?
Qian Sun sieht es so: "Wenn ich einen Satz lese und ein deutscher Kollege den gleichen Satz liest, bekommen wir eigentlich unterschiedliche Informationen. Deswegen können wir nach der gleichen Recherche mit den gleichen Fakten eine ganz unterschiedliche Geschichte schreiben. Manchmal vergessen wir, auch Journalisten haben einen bestimmten Werdegang. Durch diesen Werdegang hat jeder Beschränkungen und ist auch befangen. Wir alle tragen eine Brille."
Welche gesellschaftliche Brille haben wir auf dem Kopf, wenn wir über datengetriebene Innovationen aus China berichten?

Unsere Serie "Blinde Flecken des Journalismus weltweit" im Rahmen der Denkfabrik "Dekolonisiert euch!": Vom 7. bis zum 12. September senden wir jeden Tag um 8.40 Uhr in "Studio 9" einen Beitrag, der Journalismus und dessen Versäumnisse und "blinde Flecken" in jeweils einem anderen Land thematisiert.

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