Blinde Flecken – Berichte über Afghanistan

Der orientalistische Blick

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Eine Illustration zur Folge 4 - Afghanistan aus dem Sammelband »Unbias The News – Warum Journalismus Vielfalt braucht« von Hostwriter, das im CORRECTIV-Verlag erschienen ist.
Illustration aus dem Sammelband »Unbias The News – Warum Journalismus Vielfalt braucht« von Hostwriter, erschienen im CORRECTIV-Verlag. © Moshtari Hilal
Von Emran Feroz und Tabea Grzeszyk · 10.09.2020
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Schulen bauen und Frauen befreien. Darauf konzentrieren sich seit 20 Jahren die Berichte westlicher Medien aus Afghanistan Der Journalist Emran Feroz kann dieses orientalistische Märchen nicht mehr hören.
Was hören wir aus Afghanistan? Die immergleichen Geschichten!, beschwert sich der Journalist Emran Feroz: "Im Fall von Afghanistan wäre das zum Beispiel, dass es immer wieder um die Mär der Frauenbefreiung geht. Es geht um Brunnenbau, es geht um den Aufbau von Schulen und all diese Dinge. Dann gibt es noch die klassischen Stereotypen: Böse afghanische Männer, oft natürlich personifiziert in Form der Taliban, und unterdrückte afghanische Frauen, die eigentlich überhaupt gar keine Macht haben und deshalb vom Westen irgendwie befreit werden müssen."

Lieblingsthema Mädchenschulen

Was wir in Deutschland über Afghanistan erfahren, entspricht dem Wunschdenken der Redaktionen zuhause. Das absolute Lieblingsthema sind Mädchenschulen. Die haben aber vor Ort kaum Relevanz, meint Emran Feroz.
Als deutschsprachiger Reporter mit afghanischen Wurzeln ist er regelmäßig in Afghanistan unterwegs, für das Deutschlandradio, den "Spiegel", das "Foreign Policy"-Magazin. Dafür reist er auch in ländliche Regionen abseits der Hauptstadt - was für die allermeisten Auslandskorrespondentinnen und Korrespondenten kaum möglich ist.
"Weiß, europäisch, amerikanisch, westlich zu sein in Afghanistan bedeutet oftmals in Sachen Journalismus, dass man in Kabul ist, in irgendeinem abgesicherten Hotel oder in einem abgesicherten Büro, und von dort aus arbeitet. Man hat auch im Büro, wenn es zum Beispiel eine bekannte Nachrichtenagentur ist, genügend afghanische Mitarbeiter, die dort arbeiten – natürlich zu einem deutlich schlechteren Tarif. Wenn der weiße Chef raus will aus Kabul, dann muss er viele, viele Vorkehrungen treffen, ansonsten wird das gar nicht 'von oben' genehmigt."

Ohne afghanische Mitarbeiter geht nichts

Sind alle Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, hängt die journalistische Arbeit maßgeblich von den afghanischen Mitarbeitenden ab, erzählt Feroz. Diese sogenannten Fixer organisieren und ermöglichen als sprachliche und kulturelle Übersetzer den Kontakt mit den "Einheimischen".
"Man geht dorthin in einer oft sehr orientalistischen Manier: Dass man da auftaucht und dann zum Beispiel mit den Taliban spricht oder mit irgendwelchen Dorfbewohnern, die sehr abgelegen irgendwo leben", beschreibt Feroz das Prozedere. "Oft habe ich den Eindruck, dass die Kolleginnen und Kollegen da gar nicht so strukturiert vorgehen, sondern einfach mal schauen, was da rauskommt und was der Fixer aufsammeln kann. Und dann kehrt man zurück. Vielleicht hat man noch einige tolle Fotos, postet das. Und dann wird das als super-exklusiv verkauft: Hier ein exklusiver Einblick in die Taliban-Gebiete etcetera."
Was Emran Feroz dabei am meisten ärgert, ist die völlige Abhängigkeit westlicher Journalistinnen und Journalisten von lokalen Fixern, die für wenige hundert Dollar ihr Leben riskieren. Ohne sie ginge in Afghanistan gar nichts, berichtet der Journalist kopfschüttelnd. Afghanische Fixer seien in aller Regel die einzigen, die die Landessprachen Paschto und Dari beherrschen.

Kein westlicher Journalist spricht Paschto oder Dari

Seit Fazit ist ernüchternd: "Man sieht das tatsächlich oft, dass Redakteure, also, verantwortliche Menschen, die da wirklich mit der Berichterstattung viel zu tun haben und eine immens große Verantwortung haben, in vielen Fällen überhaupt keine Sprachkenntnisse haben. Ich kenne auch in deutschen Redaktionen eigentlich, muss ich ganz ehrlich sagen, niemanden, der in dieser Hinsicht Sprachkenntnisse hat. Auch von den Kolleginnen und Kollegen vor Ort fällt mir niemand ein, der Sprachkenntnisse hat. Wenn die einen Test machen würden, keine Ahnung, A1, A 2, B1, B2, irgendwie so was, würden die durchfallen."
Es ist schwer vorstellbar, dass eine Washington-Korrespondentin kein Englisch spricht oder ein Paris-Korrespondent kein Französisch. Anders in Kabul - was tun?
"Dekolonisation in Sachen Journalismus was Afghanistan betrifft, wäre für mich zum Beispiel, wenn wichtige journalistische Posten dort auch mit Leuten besetzt werden, die einen dementsprechenden Hintergrund haben. Vielleicht sollten da einfach mehr Leute Verantwortung bekommen, die nicht unbedingt weiß sind und die solche Erfahrungen kennen und sich dann dementsprechend auch für eine Verbesserung einsetzen."

Unsere Serie "Blinde Flecken des Journalismus weltweit" im Rahmen der Denkfabrik "Dekolonisiert euch!": Vom 7. bis zum 12. September senden wir jeden Tag um 8.40 Uhr in "Studio 9" einen Beitrag, der Journalismus und dessen Versäumnisse und "blinde Flecken" in jeweils einem anderen Land thematisiert.

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