Carolin Emcke zu #MeToo

"Es will doch niemand das Flirten untersagen"

Die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke blickt am 21.10.2016 während einer Pressekonferenz auf der Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen) in die Runde. Am 23.10.2016 wird sie in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Carolin Emcke, Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. © picture alliance/dpa - Arne Dedert
Autorin Carolin Emcke im Gespräch mit René Aguigah · 21.01.2018
Aus Sicht Carolin Emckes geht es in der MeToo-Debatte weniger um sexuelle Identitäten, denn um Machtverhältnisse. Die Philosophin und Reporterin, die sich in vielen Artikeln mit Gewalt und Begehren beschäftigt hat, sieht keinerlei lustfeindlichen Tendenzen in der Bewegung.
Carolin Emcke hat sich in zahlreichen Büchern und Artikeln mit Fragen des Begehrens, der Gewalt und der Gerechtigkeit beschäftigt. Heute sind ihre Zeitdiagnosen mehr denn je von beunruhigender Aktualität. Wie blickt sie, mit diesem Erfahrungsschatz im Hintergrund, auf die Gegenwart? Ein Gespräch über Ausgrenzung, Machtmissbrauch und Identitäten.
Zunächst geht es um Sex – genauer: um Sexualkunde. Emcke berichtet, ausgehend von einer Stelle in ihrem Buch "Wie wir begehren" (2012), von ihren Erinnerungen an die Aufklärung im Biologieunterricht der 70er- und 80er-Jahre. Geradezu technisch sei es dort zugegangen, Sexualität als mechanischer Vorgang präsentiert worden. Von Gefühlen, Verwirrung, Glück oder davon, wie man herausfindet, was einem selbst oder anderen Lust bereitet, keine Spur:
"Es war wie so eine physikalische Anleitung, eigentlich wurde einem nur erläutert, wie Reproduktion funktioniert – der eigentliche Horizont dieses Unterrichts war Schwangerschaftsvermeidung."
Und natürlich sei die Sexualkunde ausschließlich heterosexuell orientiert gewesen: Diese "Heteronormativität" des Unterrichts sei allerdings kaum aufgefallen, da über Homosexualität gar nicht gesprochen wurde:
"Das war so etwas wie eine Wüstenfeldmaus – man weiß, die gibt es, aber man sieht nie eine."
Erst als in den Achtzigern aus den USA erstmals von Aids berichtet wurde und exklusiv Schwulen zugeschrieben wurde, habe für sie eine bewusste Auseinandersetzung mit der politischen Diskriminierung von Homosexualität begonnen.

Plädoyer für durchlässige Identitäten

In "Wie wir begehren" beschreibt Emcke auch, wie sie ihre eigene, queere sexuelle Identität gefunden hat. Zugleich betont sie, dass es ihr ganz allgemein darum gegangen sei, wie Menschen herausfinden können, was sie sein wollen, "wie es möglich ist, das eigene Begehren zu entdecken und zu verstehen, wenn man in einer Zeit aufwächst, in der es nur gewisse Bilder, Geschichten und Vorstellungen davon gibt, was Begehren sein soll oder darf".
Um die eigenen Wünsche ausbilden zu können, brauchen Menschen Vorbilder, "Drehbücher". Für Homosexuelle sei das durch den Mangel an solchen Bildern erschwert.
Als queer bezeichnet sie sich unter anderem deshalb, weil dieser Begriff möglichst weit weg sei von traditionellen Rollenvorstellungen des Weiblichen oder Männlichen – und gerade nicht auf eine bestimmte sexuelle Identität festlege. Gegenüber solchen Identitätszuschreibungen aufgrund bestimmter (sexueller) Praktiken hegt Emcke grundsätzliche Zweifel:
"Ich bin sehr skeptisch bei allen Versuchen, Handlungen oder Hautfarben oder Frömmigkeit immer schon zu kollektiven Identitäten zu erklären."
Darin sieht sie die Gefahr, diese Identitätsvorstellungen zum Wesen zu erklären:
"Als gäbe es einen vermeintlichen Kern, als sei nicht jede einzelne Person immer schon Schnittmenge von verschiedenen Zugehörigkeiten."
Emcke plädiert demgegenüber für die "Durchlässigkeit" von Identitäten. Für viele homo- oder bisexuelle Menschen sei ihre sexuelle Ausrichtung gar nicht so entscheidend für ihre Identität:
"Es ist vielleicht einfach nur eine Praxis der Lust."

#Metoo - Beispiele eklatanten Machtmissbrauchs

Was sagt die Autorin, vor diesem Hintergrund, zur Debatte, die gegenwärtig unter dem Schlagwort #Metoo geführt wird? Aus ihrer Sicht geht es dabei weniger um sexuelle Identitäten, um "Männer gegen Frauen", sondern vielmehr um Machtverhältnisse. Und die seien in unserer Gesellschaft noch immer von Männern dominiert. Es handele sich um sehr unterschiedliche Beispiele für "eklatanten Machtmissbrauch", von Demütigung über Ausbeutung bis zu sexueller Gewalt.
Emcke plädiert in diesem Zusammenhang für Differenzierung, etwa hinsichtlich der jeweils angemessenen Reaktion, stellt aber auch klar, dass innerhalb der Bewegung diese Differenzierung aus ihrer Sicht durchaus stattfinde.
Emcke sieht keinerlei lustfeindlichen Tendenzen in der Bewegung: Niemand wolle das Flirten untersagen. Tatsächlich hingegen zeige sich in den Klagen mancher Männer, nun dürften sie gar nichts mehr, ein amputiertes Verständnis von Lust: Die Notwendigkeit und das Vergnügen daran, dass das Gegenüber Lust empfinde, komme da gar nicht vor. Symptomatisch dafür nennt sie die sich häufenden "Bademantel"-Szenen.
Auch den Vorwurf, dass Frauen durch #Metoo einseitig zu Opfern gestempelt würden, hält sie für "grotesk": Schließlich erlebe man doch gerade jetzt Frauen, die sich wehren und über kulturelle Unterschiede hinweg solidarische Netzwerke aufbauen.

Kulturelle und ökonomische Fragen gehören zusammen

In ihrem jüngsten Buch "Gegen den Hass" (2016) analysiert Emcke unterschiedliche Beispiele für Ausgrenzung und Hass, etwa gegen Schwarze oder Flüchtlinge. Neben viel Beifall gab es dafür auch scharfe Kritik: Sie privilegiere kulturelle Fragen und übersehe die sozio-ökonomischen Grundlagen. Diese Vorwürfe hält die Autorin für "schlicht falsch" und verweist auf die ausführliche Behandlung der sozialen Frage und der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft in ihrem Buch. Auch angesichts ihrer langjährigen Begegnungen mit den weltweiten Verlierern der Globalisierung als Reporterin eigneten diesen Vorwürfe "eine gewisse Komik".
Sie sieht einen dezidierten Widerstand gegen Positionen, die zugleich "Anerkennungs- und Distributionsfragen" verhandeln und die Aufteilung zwischen sogenannten "Minderheiten" und weißer Arbeiterschaft infrage stellen.
"Es ist ein Versuch, eine politische Diskussion dadurch kleiner zu halten, dass man sie aufspaltet."
Empirisch sei weder eine solche Gruppenzuweisung noch die Trennung der Probleme aufrechtzuerhalten:
"Fragen ökonomischer Marginalisierung und Deprivation sind immer auch Fragen von Stigma und kultureller und sozialer Ausgrenzung. Und alle Fragen von Anerkennung und Respekt für Schwarze, für Frauen, für Schwule und Lesben, für Muslime oder für Geflüchtete sind immer auch ökonomische Fragen."

Carolin Emcke: "Wie wir begehren"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2012
256 Seiten, 19,99 Euro

Carolin Emcke: "Gegen den Hass"
S. Fischer
240 Seiten, 20 Euro

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