Carolin Emcke: "Gegen den Hass"

Offenes Denken vs. geschlossenes Weltbild

Die Publizistin Carolin Emcke
Die Publizistin Carolin Emcke erhielt den Friedenspreis, musste aber auch viel Kritik einstecken. © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Von Simone Miller · 05.11.2016
Nach ihrer Friedenspreis-Rede hat Carolin Emcke Anerkennung, aber auch viel Spott erfahren. Für uns Gelegenheit, das Buch "Gegen den Hass" nochmal genau zu lesen. Simone Miller nimmt Emcke in Schutz, sagt aber auch: "Die soziale Frage ist der blinde Fleck des Buchs."
Ein Zeichen gegen den Hass zu setzen, geht mit einem Klick: Das Video von Clausnitz auf Facebook disliked. Geschichte abgehakt. Es ist einfach, Menschen herabzuwürdigen und mit Verachtung zu überziehen, vor allem dann, wenn sie sich in einer wehrlosen Situation befinden. Genau so einfach ist es, offenkundige Formen der Missachtung und Demütigung abzulehnen: mit dem Klick auf den "Gefällt mir nicht"-Knopf endet die Auseinandersetzung. Für Carolin Emcke fängt die Geschichte hier erst an.
Emckes Erkenntnisziel ist so simpel wie zentral: Sie möchte den Hass in seinen unterschiedlichen gegenwärtigen Ausführungen und seine subkutanen Voraussetzungen verstehen. Das heißt, sie fragt nach seinen gesellschaftlichen Ressourcen und Ursprüngen, nach seinen Mechanismen und Funktionsweisen. In den Blick rückt sie entsprechend ein breites Spektrum unterschiedlicher Phänomene: Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland, gegen Schwarze in den USA, gegen Anders- und Nichtgläubige durch den selbsternannten Islamischen Staat.

Warum setzen sich Stigmatisierungen immer wieder durch?

Eine der Schlüsselbeobachtungen des Buchs trifft dabei auf alle diese Anlässe, Akte und Autoren der Gewalt gilt zu: Missachtung setzt Verkennung voraus. Ursache und Objekt von Hass klaffen auseinander. Alle diese Spielarten der Missachtung setzten viel mehr tradierte und teils institutionell-geronnene Wahrnehmungsschablonen voraus, die Menschen als Bedrohung erscheinen lassen. Es sind die immer gleichen und unendlich oft wiederholten Verknüpfungen von denjenigen, die "auffallen ohne Schutz" (Horkheimer/Adorno) mit abwertenden und monströsen Eigenschaften. Nur in diesen Rastern werden Schutzsuchende per se zur Bedrohung der eigenen Kultur, Schwarze zur Gefahr für die eigene Sicherheit, Andersgläubige zum Erzfeind der eigenen Weltanschauung.
Aber warum setzen sich diese Stigmatisierungen immer wieder durch, und vor allem: Wie kann man ihre Konjunkturen erklären, möchte man Carolin Emcke fragen. Die soziale Frage ist der blinde Fleck des Buchs. Eine wichtige Teilantwort findet die Autorin nichtsdestotrotz im eigentümlichen Unvermögen der Aufgebrachten, die ursächlichen Gründe für ihre eigene, teils durchaus begründete soziale und politische Unzufriedenheit zu identifizieren. Das eigene Interpretationsmanko werde so umgemünzt in ein unbändiges Verlangen nach Eindeutigkeit. Eine Eindeutigkeit, die die eigene Fantasie verstümmelt, die Menschen zu Massen macht, die falsche Homogenität, Ursprünglichkeit und Reinheit für sich behauptet, und die vor allem eins nicht erträgt: den Zweifel und das Dazwischen.

Hass mit geduldiger Differenzierung begegnen

Man könne Hass deshalb nur mit geduldiger und beharrlicher Differenzierung begegnen. Man könne einem geschlossenem Weltbild nur offenes Denken entgegenhalten – mit einem "Lob auf das Unreine" schließt Carolin Emcke also ihre Überlegungen. Zum traurigen Ernst der Lage gehört es, dass die probatesten Mittel wie Banalitäten klingen mögen. Noch trauriger aber ist es, dass diesem Versuch, in der Öffentlichkeit offen zu Denken, so viel selbstgefällige Verachtung entgegenschlägt – ausgerechnet von denen, die täglich öffentlich denken.

Carolin Emcke: "Gegen den Hass"
S. Fischer
240 Seiten, 20 Euro

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