Urteil zur Arbeitszeiterfassung

Flucht zurück in die Stechuhrkultur

Charlie Chaplin liegt auf Zahnrädern im Stummfilm "Modern Times", 1936.
Charlie Chaplin, durchgetaktet und dem Wahnsinn nahe in "Modern Times" - das kommt Wolf Lotter beim Urteil des Bundesarbeitsgerichts in den Sinn. © imago / Cinema Publishers Collection
Ein Kommentar von Wolf Lotter · 23.09.2022
Selbst für Kenner kam das Urteil des Bundesarbeitsgerichts unerwartet: Ab sofort muss alle Arbeitszeit im Berufsleben akribisch dokumentiert werden. Ein unzeitgemäßer Rückfall ins alte Industriegesellschaftsdenken, meint der Publizist Wolf Lotter.
Vom Philosophen Odo Marquardt stammt die Erkenntnis, dass Zukunft Herkunft braucht. Das bedeutet, dass man weiß, woher man kommt, damit man weiß, wohin man geht - und dass man die Fehler, die man schon mal gemacht hat, nicht wiederholt. In Deutschland ist das manchmal anders. Während man neue Fehler macht, kramt man in alten Irrtümern, um sie wiederzubeleben.
Was dabei rauskommt, das muss man sich vorstellen wie in dem famosen Film "Modern Times" von Charlie Chaplin aus dem Jahr 1936. Charlie Chaplin spielt darin einen Fabrikarbeiter. Die Fabrik, in der Charlie arbeitet, beobachtet jeden Schritt ihrer Mitarbeiter. Alles, was sie tun, wird aufgezeichnet. Cineasten wissen, wie die Sache ausgeht: In einer der berühmtesten Filmszenen der Geschichte dreht der vollüberwachte, jeglicher selbständiger Tätigkeit beraubte Arbeiter Charlie durch, nachdem er zuvor schon zu einem roboterhaften Wesen geworden ist, durchgetaktet von Fließbändern und Zahnrädern, die ihn schließlich zu zermalmen drohen. Ein Alptraum!

Die Stechuhr ist zurück, hurra!

Seit vergangener Woche baut die Zukunft der deutschen Arbeitswelt auf der Herkunft eines Wahns, dass Menschen nichts weiter sind als leicht taktbare Maschinenbestandteile. Alles kann gemessen werden! Die Digitalisierung stockt, die Transformation kommt nicht ins Laufen, keine Ideen für Innovationen? Das macht nix. Dafür wird wieder die Stechuhr eingeführt!
Juristen des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt entschieden, dass in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht. Und folgten damit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Die Aufzeichnungspflicht beginnt sofort, unverzüglich. Man kann sich elektronisch an- und abmelden, per Fingerabdruck. Oder sein Wirken minutengenau in eine Computertabelle einpflegen. Die Hersteller von Zeiterfassungssoftware sind begeistert. 
In der Pandemie lernte ein Teil der Mitarbeitenden selbstständig und selbstbestimmt zu arbeiten. Das ist in fast allen Berufen heute entscheidend. Die Menschen sind keine Befehlsempfänger mehr. Sie wissen, wie es Peter Drucker, der Vordenker des modernen Managements, mal sagte “über ihre Arbeit mehr als ihr Chef”.

Es ist anachronistisch, Leistung nach Zeit abzurechnen

Und mehr noch: Es ist anachronistisch - jedenfalls in den meisten Tätigkeiten dieser neuen Welt - überhaupt noch Leistung nach Zeit abzurechnen. Das fördert genau jene Mentalität des Absitzens, die wir sonst immer so wortreich beklagen. Wir brauchen Menschen, die Probleme lösen wollen - und nicht bloß den Tag rumkriegen.

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Die Arbeitgeber, die sich nun empören, sollten vor der eigenen Tür kehren. Nicht wenige haben das Vertrauen in Vertrauensarbeit nicht ganz so ernstgenommen, wenn es darum ging, Überstunden zu bezahlen und darauf zu achten, dass Leistung und Gegenleistung in einem fairen Verhältnis stehen. Auch das hat dieses Urteil provoziert.
Die Stechuhr indes löst dieses Problem nicht. Sie entbindet die Einzelnen nicht von der Selbstverpflichtung, die Grenzen von Arbeit und Freizeit selbst zu definieren. Wir hätten einen mutigen Schritt gebraucht, der allen Beteiligten mehr Luft und Möglichkeit zum Ausprobieren der neuen Arbeit gelassen hätte. Stattdessen flüchtet man sich ins Gestern, in die Stechuhrkultur.
Moderne Zeiten? Nein. Wir sind, wieder mal, Charlie.

Wolf Lotter ist Autor mit dem Schwerpunkt Transformation und Innovation, Gründungsmitglied und langjähriger Leitessayist des Wirtschaftsmagazins „brand eins“ und Autor von Bestsellern. Zuletzt "Strengt euch an: Warum Leistung wieder lohnen muss" (2021) und „Unterschiede: Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird“ (2022). 

Wolf Lotter: Ein älterer Mann mit Brille und kurzen Haaren schaut in die Kamera.
© Katharina Lotter
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