Vom Wesen der Wut

Ein produktives Gefühl mit schlechtem Ruf

07:49 Minuten
Illustration einer Frau mit einem wütenden Gesicht, im Stile der Pop Art.
Warnsignal und emotionaler Antrieb zum Handeln: Ohne Wut käme wenig in Bewegung, meint Johanna Kuroczik. © Getty Images / McMillan Digital Art
Johanna Kuroczik im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 16.03.2022
Audio herunterladen
Wut gelte zu Unrecht als destruktive Emotion, sagt die Journalistin und Medizinerin Johanna Kuroczik. Sie hat dem aufbrausenden Gefühl ein Buch gewidmet, in dem sie zeigt, dass es viel Gutes bewirken kann – persönlich ebenso wie politisch.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine erschüttert und empört viele Menschen. Mit den täglichen Bildern von brutalen Angriffen auf die Zivilbevölkerung wächst die Wut auf den russischen Präsidenten Putin. Aber diese Wut sei nicht ohnmächtig, sie lähme die Menschen nicht, sagt Johanna Kuroczik, Wissenschaftsredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Ohne Wut keine Solidarität

Im Gegenteil, sie habe den Eindruck, für die enorme Solidarität und Hilfsbereitschaft, die auch in Deutschland gerade viele aktiv werden lasse, sei gerade diese Wut ein starker Antrieb. Kuroczik hat ein Buch über die Wut geschrieben, mit dem sie diese Emotion von ihrem schlechten Ruf befreien und, so der Untertitel, für "Mut zum Zorn" plädieren möchte.
Denn dass Wut die Kraft besitze, gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen, habe schon Mahatma Gandhi erkannt. Wut treibe den Menschen an wie Benzin einen Motor, so zitiert Kuroczik den Vorkämpfer des gewaltlosen Widerstands.

Angst vor Intensität

Dieses produktive Potenzial der Wut werde völlig unterschätzt, meint Kuroczik. Auch im zwischenmenschlichen Umgang werde sie eher als negatives und zerstörerisches Gefühl angesehen. Das liege auch daran, dass Wut "uns mit ihrer Intensität Angst macht". Dabei habe sie eine wichtige Aufgabe.

Wut ist eine Emotion, die uns schützt, denn sie ist eine Reaktion auf eine Grenzüberschreitung.

Johanna Kuroczik, Medizinerin und Journalistin

Das Wesen der Wut sei kraftvoll und tief in unserem Gefühlsleben verankert, sagt Kuroczik. Im Gehirn liege ihr Ursprung in demselben Zentrum, das auch für Angst verantwortlich sei: der Amygdala. Die Wirkung der Wut sei körperlich messbar.

Wenn das Blut in die Muskeln schießt

Stärkere Durchblutung der Muskeln, eine erhöhte Herz- und Atemfrequenz, all das habe in früheren Phasen der menschlichen Evolution einmal dazu gedient, dass wir uns erfolgreicher verteidigen – oder besser aus dem Staub machen können. In der modernen Welt könne derartiges Aufbrausen natürlich zu Konflikten führen, räumt Kuroczik ein.
Es sei jedoch wichtig, die eigene Wut überhaupt wahrzunehmen und dann einen Schritt zurückzutreten, um den Grund dafür zu erkennen. Der Psychologe Marshall Rosenberg, Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, habe darauf hingewiesen, dass der Anlass eines Wutausbruchs in den seltensten Fällen auch seine eigentliche Ursache sei.

Kraft am Zügel der Vernunft

Ihre Faszination für das Phänomen Wut entdeckte Kuroczik nicht zuletzt bei der Arbeit als Assistenzärztin in der Psychiatrie. Viele psychische Störungen seien mit verschiedenen Formen von Wut verbunden. "Mich hat schon immer beeindruckt, dass es eine sehr unverfälschte, fast schon animalische Emotion ist, die sich gar nicht gut verstecken lässt", sagt Kuroczik.
Im persönlichen wie im politischen Umgang komme es darauf an, die aufschäumende Wut im Zaum zu halten. Der antike Philosoph Platon habe dafür das Bild des "geflügelten Seelenwagens" verwendet: Das Ross, das diesen Wagen zog, nannte er Zorn, griechisch: Thymos, als Wagenlenker zügeln sollte es die Vernunft.
Wut sei kein Ratgeber, sagt Kuroczik, "sondern ein persönliches Warnsignal an mich: Sie macht mich auf Probleme aufmerksam, und hoffentlich komme ich dadurch ins Handeln."
(fka)

Johanna Kuroczik: "Wut! Mut zum Zorn"
Hirzel Verlag, Stuttgart 2022
128 Seiten, 15 Euro

Mehr zum Thema