Bernd Stegemann: "Wutkultur"

Ist Wut gut?

05:26 Minuten
Statue des Bristoler Sklavenhändlers Edward Colston, die nun ausgestellt wird, nachdem sie während einer Black-Lives-Matter-Demonstration am 7. Juni 2020 umgestürzt und in den Hafen von Bristol geworfen worden wurde.
Im Jahr 2020 von wütenden Menschen gestürzt: die Statue des Bristoler Sklavenhändlers Edward Colston. Nun wird sie wieder ausgestellt, mit allen Spuren von damals. © picture alliance / Ben Birchall
Von Michael Laages · 21.08.2021
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Bernd Stegemann, Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie in Berlin, prangert in seinem jüngsten Buch die "Wutkultur" der Menschen an, die sich als Opfer sehen. Eine Polemik, die aber klar und sachlich argumentiert.
Langen Anlauf nimmt er. Knapp zwei Drittel des Buches, 60 von 100 Seiten, sind bereits gelesen, als Stegemanns eigentliches Ziel ins Visier gerät: die Ideologie identitärer Bewegungen von links. Laut Stegemann die Strategie sozialer Gruppen, die sich im öffentlichen Diskurs auf das Recht des "Opfers" berufen und vorgeben, nach Jahrhunderten der Unterdrückung um gleiche Rechte und gleiche Behandlung zu kämpfen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, auch in den Künsten, natürlich auch im Theater.
Der Autor Bernd Stegemann, Professor an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Dramaturg am Berliner Ensemble, sitzt auf einer Bühne.
Bernd Stegemann ist Professor an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch.© dpa / Horst Galuschka
Es geht Stegemann – angemessen zugespitzt formuliert – um Frauen, für die immer und unterschiedslos alle Männer schuld sind an allem; vor allem aber um "People (oder "Persons") of Color", deren Aktivistinnen und Aktivisten jede Person mit heller Hautfarbe verantwortlich machen für die Schreckensgeschichte des Rassismus.

Der Zorn fordert Sonderrechte ein

Mittlerweile, schreibt Stegemann, schmeckten die Argumentationsmuster der Anklägerinnen und Ankläger am virtuellen Welt-Tribunal sehr verdächtig nach "Inquisition" und stalinistischen Prozessen. Wer sich verteidige gegen die allgegenwärtigen Vorwürfe, klage sich immer nur an. Die Wahrheitsapostel schafften es mehr und mehr, meint Stegemann, jeden Versuch, Vernunft und Sachlichkeit in die Debatte zu bringen und auf zivilisatorischen Grundvereinbarungen zu bestehen, als besonders perfide getarnten Rassismus zu enttarnen.
Tatsächlich – das ist Stegemanns schärfstes Argument – stehe inzwischen der "Universalismus" auf dem Spiel, die in den gesellschaftlichen Folge-Entwicklungen der Aufklärung erkämpfte Basiswahrheit, dass jedes Menschenrecht für jeden Menschen gelte, nicht nur für "Opfer", unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und sozialer Grundausstattung.
Was das nun mit "Wut" und mit "Kultur" zu tun hat? Das wird auch verstehen, wer Stegemanns zuweilen etwas alarmistische Positionen, Analysen und Befürchtungen nicht oder nur zu Teilen teilt. Zu beobachten – so Stegemann – sei mittlerweile doch die ins Maßlose gesteigerte "Wut" der Opfer. Zunächst forderte dieser kämpferische (und durchaus verständliche) Zorn Sonderrechte ein, zum Beispiel Quotierungen. Inzwischen sieht Stegemann die gar nicht mehr nur schleichende Ent-Menschen-Rechtung der Mehrheitsgesellschaft heraufziehen.

Wut ist nicht per se gut

An deren Ende, wenn also "Wut" nicht wieder "eingehegt" werden kann, also produktiv auf die Wege der Vereinbarung gesellschaftlichen Nebeneinanders geleitet werden könne, werde unausweichlich das Ende des demokratischen Modells stehen. Und die Diktatur einer Art von Moral, die sich nur aus eigenem identitären Anspruch rechtfertigt, nicht aus dem "universalistischen", den Stegemann für unveräußerbar hält.
An sich aber tut Wut ja gut: wenn sie sich in Energie verwandeln lässt. Wut jedoch, die ihrerseits nur Gegen-Wut hervorruft, sei zu überhaupt nichts gut, schreibt Stegemann, allerhöchstens zur Triebabfuhr. Als "Selbstvergiftung" sieht Stegemann die Geschichte des antiken "Thymos", also von Zorn und Wut, wie sie schon Aristoteles beschrieb und analysierte, später Friedrich Nietzsche. Er leitet die aktuellen Bewegungen von "Wutbürgern" schlüssig aus der Geschichte deutscher Katastrophen her, immer unter Berücksichtigung der Kämpfe der Klassen, die der gut sortierte Alt-Marxist ohnehin für die eigentliche Schwungscheibe und Triebfeder des Fortschritts hält.

"Wut der Opfer" macht anderen Vorschriften

Nach dem Faschismus habe Deutschland sich sehr bewusst und vernünftigerweise von allen Formen des Nationalismus verabschiedet, der tauge im Grunde ja nicht mal mehr für Wirrköpfe unter Rechts-Identitären und Reichsbürgern. Auch bei der AfD entwickele die "Wut der Täter" kein Potenzial.
Gerade darum aber sei die "Wut der Opfer" so viel gefährlicher – weil sie (im Grunde sehr nationalistisch) anderen in Europa vorschreibe, wie Gesellschaft korrekt funktioniere und der demokratischen Konsens-Gesellschaft im eigenen Land Basis und Struktur zu rauben beginne.
Stegemann schreibt schnell, flott und frech. Die Beispiele, mit denen er Thesen untermauert, sind manchmal beinahe schlicht, aber immer klar. Der Polemiker kann sehr sachlich argumentieren – und er wird sich schon freuen auf die Wut, die sein Blick auf die Kultur der Wut absehbar auslösen wird.

Bernd Stegemann: "Wutkultur"
Theater der Zeit, Berlin 2021
105 Seiten, 12 Euro

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