Sachbuch „Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker“

Ein einzigartiger Design-Kosmos

35:48 Minuten
Das Cover zeigt auf weißem Grund die nur aus orangenen Strichen und Punkten bestehende, abstrahierte Darstellung zweier Schwimmsportler beim Sprung ins Becken.
© Prestel Verlag
Otl Aicher. Designer. Typograf. DenkerPrestel , München 2022

256 Seiten

49,00 Euro

Von Eva Hepper · 24.05.2022
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Er hat das Bild der Olympischen Spiele 1972 in München geprägt, das Logo der Lufthansa entworfen und Designer weltweit beeinflusst: Otl Aicher. Zu seinem hundertsten Geburtstag erinnert ein Prachtband an den großen Gestalter.
Die Fotografie zeigt Otl Aicher 1953 in seinem Atelier. Der Gestalter ist 31 Jahre alt, noch hat er keine Großtaten vollbracht, aber sein Ausdruck zeugt von enormem Selbstbewusstsein: die Arme verschränkt, der Blick herausfordernd in Richtung Kamera, in sich ruhend und gleichzeitig bereit zum Aufbruch. 
Diese Haltung spiegelt auch das Atelier mit penibel aufgeräumtem Regal und fast blankem Schreibtisch. Auf ihm liegen exakt arrangiert weiße Blätter im Quer- und Hochformat, dazu ein Pinsel, eine Schere, ein Lineal. Die perfekte Ordnung, um Neues entstehen zu lassen.

Wirken über das Gestalterische hinaus

Das vielsagende Porträt des einflussreichsten Gestalters der Nachkriegszeit steht am Anfang des Prachtbandes, den Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl zum hundertsten Geburtstag Otl Aichers herausgegeben haben. Gemeinsam mit einem Team von Autorinnen und Autoren beleuchten sie auf über 250 Seiten nicht nur dessen gigantisches Werk, sondern auch seine politische und ästhetische Haltung sowie sein Wirken als Lehrer, Designer, Architekt, Fotograf und Typograf.
Die Herausgeber vermessen in ihren einleitenden Beiträgen zunächst den Kosmos Aicher. Winfried Nerdinger beschreibt die politische Herkunft des 1922 in Ulm geborenen und 1991 gestorbenen Autodidakten, seine Freundschaft mit den Geschwistern Scholl – Inge Scholl wird später seine Ehefrau –, und seine aus der NS-Zeit resultierende Widerständigkeit, die Aichers Werk zeitlebens stark beeinflusste und die er selbst so beschrieb: „mein denken war andenken gegen hitler“.

Eine Ordnung schaffen, die es noch nicht gibt

Wilhelm Vossenkuhl zeigt den philosophischen Hintergrund Aichers auf, der als Vielleser Unmengen von Wissen verschlang und nicht zuletzt geschult an Ludwig Wittgenstein zu seiner Haltung und seinem ungeheuren Anspruch fand: eine Ordnung zu schaffen, die es noch nicht gibt und mit jedem Produkt die Welt zu gestalten.
Schwarzweißaufnahme von Otl Aicher, der seinen Arm lässig an der Wand ablehnt und selbstbewusst in die Kamera blickt.
Otl Aicher, ein Renaissancemensch: Philosophisch gebildet und belesen, prägte er die westdeutsche Designgeschichte. Hier zu sehen in einer undatierten Aufnahme.© picture-alliance / dpa / Interfoto
In den folgenden Beiträgen zeigt sich dann Otl Aichers Wirken in beispielloser Fülle: 1953 die Mitgründung der legendären Ulmer Hochschule für Gestaltung, 1972 das noch heute wegweisende Design der Olympischen Sommerspiele in München mit seinem genialen Farbsystem und den prägnanten Piktogrammen. Die Arbeiten für Firmen wie Braun, Lufthansa, ERCO und Bulthaup, die Entwicklung der Rotis-Schrift.

Visuelle Kommunikation umfassend gedacht

So wird eindrucksvoll dargelegt, dass Gestaltung für Aicher mehr war als Produktherstellung, und wie weit er seiner Zeit voraus war. Tatsächlich hat der Ulmer „das internationale Außenbild der Bundesrepublik Deutschland wirkungsvoll positiv verändert“, schreibt Kilian Strauss.
Das lässt sich anhand der vielen Abbildungen direkt nachvollziehen: Es ist eine Lust, durch die Plakate, Zeichnungen, Fotografien, Illustrationen oder Piktogramme zu stöbern. Hier wird deutlich, wie umfassend der Designer visuelle Kommunikation dachte, noch bevor dieser heutzutage gängige Ausdruck überhaupt Verwendung fand.
Ein großartiges, Maßstäbe setzendes Buch: Den Autorinnen und Autoren gelingt es, den Geist Otl Aichers zu vermitteln, ohne ihn zu heroisieren.
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