Selbstbestimmungsrecht

Wendepunkte der Abtreibungsdebatte

11:05 Minuten
Eine Frau mit bauchfreiem Top nimmt an einer Demonstration teil. Auf ihrem Bauch sind mit grüner Farbe die Wörter "my body my choice" zu lesen.
„My body, my choice“ ist eine alte feministische Forderung, die noch lange nicht umgesetzt ist. © AFP / Timothy A. Clary
Dinah Riese im Gespräch mit Eckhard Roelcke · 24.06.2022
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Am Freitag gab es gleich zwei historische Entscheidungen in Sachen Abtreibungsrecht. Während der Supreme Court in den USA das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch kippte, wurde in Deutschland das Werbeverbot für Abtreibungen aufgehoben.
„In den USA kämpfen Frauen gerade dafür, das Recht auf den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu behalten. Da sind wir in Deutschland noch gar nicht. In Deutschland hat man sich die letzten fünf Jahre darüber gestritten, ob Ärztinnen auf ihren Webseiten sachlich darüber informieren dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen und ob sie dies operativ oder medikamentös tun“, sagt die Journalisten Dinah Riese über die beiden historischen Entscheidungen zum Thema Abtreibungsrecht in beiden Ländern.

Dinah Riese hat kürzlich mit Gesine Agena und Patricia Hecht das Buch „Selbstbestimmt – Für reproduktive Rechte“ veröffentlicht.

In den USA wurde mit einem Urteil des Supreme Courts das bisher landesweit geltende Recht auf Abtreibung gekippt. Damit werden Schwangerschaftsabbrüche zwar nicht illegal. Von nun an steht es aber den einzelnen US-Bundesstaaten frei, Abtreibungen zu erlauben, sie einzuschränken oder gänzlich zu verbieten. Und in Deutschland wurde mit der im Bundestag beschlossenen Streichung des Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen aufgehoben.

Was das Urteil des Supreme Courts bedeutet

Die Entscheidung des Obersten Gerichts der USA „hat eine enorme Bedeutung für die Lebensrealität von sehr vielen Frauen in den USA“, erklärt Riese, „weil fast die Hälfte der US-Bundesstaaten schon seit Jahren Gesetze vorbereitet hat, um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einzuschränken oder de facto unmöglich zu machen“.

"Erschreckende Parallelen" zwischen den USA und Polen in Fragen der Abtreibungspolitik sieht Basil Kerski, Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins „Dialog“. In Polen gibt es derzeit das schärfste Abtreibungsrecht in der EU und auch dort wurde dieses durch das Verfassungsgericht "nicht zugunsten der Frauen" geändert, erklärt Basil Kerski .

In Deutschland rückte mit der Verurteilung der Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel vor fünf Jahren das Thema Abtreibung wieder in den Vordergrund, vor allem die Tatsache, dass sie in Deutschland prinzipiell strafbar, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei ist. Hänel hatte auf ihrer Website darüber informiert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbietet. Doch der nun gekippte Paragraf 219a des Strafgesetzbuches verbot eine solche „Werbung“.

Schlechte Versorgungslage in Deutschland

Aber auch die schlechte Versorgungslage wird in den letzten Jahren immer breiter diskutiert. Riese berichtet, dass ca. 100.000 Abbrüche im Jahr von ungefähr 1100 Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden "und es werden jedes Jahr weniger. Das heißt: Es braucht auch noch andere Instrumente, um diesem Versorgungsmangel zu begegnen."
Die Journalistin verweist auf Spanien. Dort wurde eben vom Kabinett beschlossen, dass Krankenhäuser in Regionen mit schlechter ärztlicher Versorgung dazu verpflichtet werden, Personal für Schwangerschaftsabbrüche zu rekrutieren.
„So etwas gibt es hier nicht. Die allermeisten Krankenhäuser machen überhaupt gar keine Abbrüche. Die Länder haben zwar eigentlich einen Auftrag, die Versorgung zu sichern, wissen aber meist überhaupt nicht, wie viele Ärztinnen bei ihnen überhaupt Abbrüche durchführen. Das heißt: Es braucht in der Tat auch deutlich mehr politischen Willen, diesen Versorgungsauftrag ernst zu nehmen."

Repolitisierung der Ärzteschaft

Die meisten Ärztinnen und Ärzte, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, wurden laut Riese in den 70er- und 80er-Jahren politisiert. Diese Generation geht nun in Rente. Für die Mediziner, die in den Jahren danach sozialisiert wurden, waren Schwangerschaftsabbrüche kein Thema mehr. Mit der Reform des Abtreibungsrechts nach der Wiedervereinigung mit Fristenlösung und Beratungspflicht verschwand das Thema erfolgreich aus der öffentlichen Debatte. Doch in den letzten fünf Jahren ist eine neue Debatte darüber entbrannt, so Riese.
„Das heißt: Auch die Ärzteschaft ist in einer Auseinandersetzung und ist vielleicht sogar in einem Politisierungsprozess.“ Bei Kristina Hänel würden jedenfalls nun auch junge Mediziner hospitieren, um zu lernen, wie Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Außerdem würden sich auch mehr und mehr in Vereinen wie „Doctors for Choice“ zusammenschließen, so Riese.

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