Vorkaufsrecht von Kommunen
Kampf gegen die Verdrängung aus der Innenstadt: Mit einem Transparent protestieren Anwohner und Anwohnerinnen gegen den Verkauf von Wohnungen und Häusern in Berlin-Neukölln. © imago images / Bildgehege
Wie Gerichte den Mieterschutz untergraben
07:20 Minuten
Das Vorkaufsrecht war ein starkes Instrument für Städte und Gemeinden, um Mieter und Mieterinnen vor Verdrängung zu schützen – bis das Bundesverwaltungsgericht das Vorgehen stoppte. Und damit eine Klagewelle auslöste.
Die Berliner Hermannstraße ist eine der stark befahrenen Hauptstraßen im Norden des Bezirks Neukölln mit viel Gastronomie und Einzelhandel. Vor dem Haus Nummer 48 steht Ari, die seit zwölf Jahren hier wohnt.
„Von außen ist es erst mal relativ unscheinbar, normaler Altbau, Wohnhaus. Das ganze Gebäude besteht aber aus mehreren Teilen, die wir gleich auch angucken. Es gibt zwei Hinterhöfe, und ungefähr 120 Menschen sind dort zu Hause.“
Dieses Gebäude ist ein besonderes – wegen der Wohngemeinschaften im ehemaligen Fabrikgebäude im Hinterhof, wegen des dortigen Raums für politische Aktivitäten und wegen der Geschichte seines Verkaufs.
Diese Geschichte steht für die Erosion eines Schutzmechanismus der deutschen Wohnungspolitik: das kommunale Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten. Die Hermannstraße liegt im sogenannten Schillerkiez. Er grenzt an den ehemaligen Flughafen Tempelhof und ist seit dessen Stilllegung eine beliebte Wohngegend. Die Mieten und Immobilienpreise sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen.
Eine Hausgemeinschaft wehrt sich
Das vierstöckige Hinterhaus haben die Bewohner seit den 1980er-Jahren aufwendig umgebaut. 80 Menschen leben hier in Wohngemeinschaften. Im ersten Stock der ehemaligen Fabrik befindet sich der Projektraum, ein spendenfinanzierter Raum für Kneipenabende, Filmvorführungen und politische Veranstaltungen.
„Das ist unsere Wohnküche, und da gehen die Zimmer davon ab. Aber das ist so ein zentraler Ort, wo man sich trifft, und gemeinsam Kaffee trinkt.“
Annika lebt seit vier Jahren hier. Den Kaffee serviert die 32-Jährige in einer Tasse mit der Aufschrift: „H48 bleibt“.
Das war der Kampagnentitel, als die Hausgemeinschaft Kundgebungen organisierte und Darlehen sammelte, um die Hermannstraße 48 zu kaufen. Der Kampf ums eigene Haus begann mit einem Brief zur Weihnachtszeit.
„Am 23. Dezember 2020 kam eine Nachricht, dass ein Kaufvertrag vorliegt und dass das Haus verkauft wurde.“
Die Eigentümerin wollte das Haus an eine Immobilienfirma verkaufen. Allerdings liegt die Hermannstraße in einem sogenannten Milieuschutzgebiet.
Das sind Stadtviertel, in denen die Kommune – im Berliner Fall sind das die Bezirke – Schutzmaßnahmen ergreifen kann, um einen Anstieg der Mieten und eine Verdrängung der Wohnbevölkerung zu verhindern.
Klage statt Einigung
Zwei Monate haben die Bezirke nach einem Vertragsabschluss Zeit, zu intervenieren und einen Vorkauf anzumelden. Der Bezirk Neukölln machte davon Gebrauch – zugunsten einer von der Hausgemeinschaft gegründeten Firma.
Die eigentlich vorgesehene Käuferin hätte das abwenden können, wenn sie soziale Garantien für die Bewohner ausgesprochen hätte, langfristige Mietverträge zum Beispiel. Doch sie weigerte sich und klagte stattdessen im September 2021 gemeinsam mit der Eigentümerin gegen die Intervention des Bezirks, erzählt Ari.
„Und zwei Monate drauf kam aus einer ganz anderen Richtung, womit wir überhaupt nicht gerechnet haben, der herbe Schlag, dass nämlich das Bundesverwaltungsgericht die ganze Verkaufspraxis gekippt hat – also nicht nur für unser Haus, sondern für alle Häuser in ganz Deutschland.“
Konsequenzen des Urteils
Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Fall eines anderen Berliner Hauses das vom Bezirk ausgeübte Vorkaufsrecht für ungültig erklärt. Es setzte grundsätzlich dem Recht der Kommunen, in Wohnungsverkäufe zu intervenieren, enge Grenzen. In der Hermannstraße 48 hat das für die großen Wohngemeinschaften einschneidende Konsequenzen.
Der Verkauf an die Immobilienfirma ist mittlerweile rechtskräftig, und die neue Eigentümerin könne die Mietverträge der Fabriketagen innerhalb von drei bis sechs Monaten grundlos kündigen, sagt Annika. Hier gelte nicht der übliche Kündigungsschutz.
Die frühere Eigentümerin habe den aufwendig errichteten Wohnraum nie als solchen behördlich angemeldet, sondern den Gewerbestatus aufrechterhalten. Entsprechend kurz sind die Kündigungsfristen. Vor allem für Menschen mit Kindern sei das eine bedrohliche Situation, sagt Annika.
„Viele Leute, die hier im Haus gewohnt haben mit Kindern, die haben gesagt: Wir müssen uns jetzt schon was anderes suchen, weil: Falls es nicht klappt, hier drum zu kämpfen, rechtlich, dann brauchen wir irgendeinen Ort, wo wir bleiben können. Der Effekt war, dass mehrere Menschen, die in großen Gemeinschaften gelebt haben, mit Kindern, in kleinere Wohnungen umgezogen sind.“
FDP blockiert neues Gesetz
Die Hausgemeinschaft schloss sich dem im November 2021 gegründeten Bündnis „Neues Vorkaufsrecht jetzt!“ an. Es besteht heute aus 60 vor allem Berliner Hausgemeinschaften und anderen Initiativen. Das Bündnis forderte während der damals laufenden Regierungsbildung auf Bundesebene, das Vorkaufsrecht der Kommunen gesetzlich zu verankern. Im Koalitionsvertrag steht dazu nur:
„Wir werden prüfen, ob sich aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergibt.“
Annika ist empört:
„Das ist für uns natürlich wie ein Schlag ins Gesicht. Und für alle BerlinerInnen, und deutschlandweit, die von Verkäufen ihrer Häuser betroffen sind, ihres Wohnraums, wo eine Frage ist: Warum muss das erst noch geprüft werden, ob es da ein Instrument braucht, um so einem Ausverkauf der Städte Einhalt zu gebieten?“
Zwar hat das SPD-geführte Bauministerium im April einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem das Vorkaufsrecht der Kommunen weitgehend wiederhergestellt werden soll. Auch die Grünen sind dafür. Doch die FDP blockiert. Es gebe in der Regierung noch immer keine Einigung dazu, teilt das Bauministerium auf Anfrage mit.
"Wir brauchen dringend ein neues Vorkaufsrecht"
Ob aus dem Entwurf jemals ein Gesetz werden wird, ist unklar. Deshalb kritisiert auch Neuköllns Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Jochen Biedermann von den Grünen, die Bundesregierung. Auf Anfrage schreibt er:
„Der vereinbarte Prüfauftrag dauert mir schon viel zu lange. Wir brauchen dringend ein rechtssicheres neues Vorkaufsrecht. Es war in den vergangenen Jahren eines der wichtigsten und erfolgreichsten Instrumente gegen die katastrophalen Auswirkungen der Immobilienspekulation.“
Biedermann hat von 2017 bis 2021 über hundert Mal einen Hauskauf entweder verhindert oder sozialer gestaltet. Jetzt sind ihm die Hände gebunden.
Schlimmer noch: Nach Angaben des Berliner Senats gab es in der Hauptstadt wegen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts bis Juli rund 50 Fälle, in denen Hauskäuferinnen soziale Zugeständnisse nachträglich angefochten haben, die ihnen die Bezirke mit der Drohung eines Vorkaufs abgerungen hatten.