Schriftstellerin Victoria Belim

"Der Schmerz der Ukraine ist auch mein Schmerz"

15:06 Minuten
Eine junge Frau, Victoria Belim, sitzt und schaut in die Kamera. Ihr rechter Arm liegt auf einem Tisch, der aus ihrer Sicht rechts von ihr steht. Sie hat schwarze Haare, trägt ein weißes Oberteil. Auf dem Tisch liegen mehrere Utensilien. Im Hintergrund hängt eine gerahmte Zeichnung im Längsformat an der Wand.
Schriftstellerin Victoria Belim hat über ihre Familie geschrieben - und über die Ukraine, ihr Geburtsland. © Victoria Belim
Victoria Belim im Gespräch mit Joachim Scholl · 18.01.2023
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Die in der Ukraine geborene Autorin Victoria Belim hat mit "Rote Sirenen" eine Familiengeschichte geschrieben. Darin erzählt sie auch die Geschichte der Ukraine. Am Anfang stand dabei die Aussage eines Onkels, man müsse der Sowjetunion dankbar sein.
Victoria Belim kam in der Ukraine zu Welt, zog als Teenager mit ihren Eltern in die USA, studierte dort Politikwissenschaften und lebt heute in Belgien. Sie hatte also durchaus Abstand zu ihrem Geburtsland.
Eine Auseinandersetzung mit ihrem in Tel Aviv lebenden Onkel gab 2014 den Anstoß mit der Beschäftigung für eine Recherche zur Geschichte der eigenen Familie und letztlich auch zu ihrem Buch, das in 15 Ländern erscheint.

Als ich dann in die Ukraine gereist bin, habe ich gemerkt, dass sich tatsächlich eine sehr starke Beziehung zu diesem Land habe; dass der Schmerz, den die Ukraine erlebt, dass ihre Tragödie auch mein Schmerz und meine Tragödie sind. Und mit diesem brutalen Krieg ist meine Welt dann 2022 erneut komplett umgekrempelt worden.

Victoria Belim

Keine Träne der Sowjetunion nachweinen

Die Aussage ihre Onkels lautete damals, man müsse der Sowjetunion dankbar sein. "Als ich diesen Satz zum ersten Mal gelesen habe, dass man dankbar dafür sein muss, was die Sowjetunion geleistet habe, war ich schockiert", schildert Belim.
Für sie sei klar gewesen, dass man der Sowjetunion keine Träne nachweinen sollte: "Ein totalitärer Staat, der viele Tote auf dem Gewissen hatte, inklusive aus unserer eigenen Familie", sagt sie. Die Konfrontation mit der Sowjetnostalgie ihres Verwandten habe sie dazu gebracht, alles zu überdenken: "Meine Familiengeschichte, meine eigene Haltung zur Geschichte, zur Vergangenheit." Und es habe sie inspiriert, mit dem Recherchieren und Schreiben über das Thema anzufangen.

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Im Jahr 2014 reiste sie zurück in ihr Geburtsland, suchte und sprach mit den Menschen. Unterschiedliche Erinnerungen an die Sowjetzeit sind weit verbreitet in der Ukraine, hat sie dabei festgestellt.

Die schweigenden Alten in der Ukraine

Der Umgang mit einer traumatischen Vergangenheit unterscheide sich auch nach Generationen: Ihre Großmutter etwa habe sich ins Schweigen und ihren Kirschgarten zurückgezogen: "Für sie war die Vergangenheit ein anderes Land. Die Vergangenheit bleibt in der Vergangenheit. Von einem Trauma muss man weitergehen, sich weiterentwickeln."
Auf ihren Reisen durch die Ukraine habe sie Schweigen als typische Reaktion erlebt: Viele Menschen würden es tun, weil es einfacher sei. "Aber meine Haltung ist die einer anderen Generation", sagt Belim. "Wir wollen verstehen! Ich möchte herausfinden, was in der Geschichte passiert ist."
Die unterschiedliche Herangehensweise sei auch immer ein Konflikt zwischen ihrer Großmutter Valentina und ihr gewesen, so wie die Geschichte ihrer Familie sich oft auch in der des Landes zeige und umgekehrt.

Das beim KGB verschwundene Familienmitglied

In ihrer Familie ist die tiefe Narbe der Sowjetzeit vor allem der Verluste des Urgroßonkels: Er verschwand 1937 im sogenannten Hahnenhaus, der damaligen Geheimdienstzentrale im Land. Verzierungen an der Fassade dieses Hauses gaben Belims Buch den Titel.
Die Autorin stellt fest: "Obwohl wir nie über ihn gesprochen haben, hat das trotzdem einen starken Einfluss auf uns gehabt und auf die Beziehungen innerhalb der Familie."
Sie habe dann auch im Hahnenhaus recherchiert, eine unangenehme und beängstigende Erfahrung sei es gewesen, aber auch eine Herausforderung. "Ich musste das tun: Dorthin gehen und mir die Informationen zusammensuchen, denn man muss verstehen, was passiert ist. Man muss die Vergangenheit verstehen, um mit der Gegenwart in Einklang zu kommen und sich überhaupt die Zukunft vorstellen zu können."

Identitätsfragen in der Familie und im Land

Die gespaltene Erinnerung und das Schweigen betreffe wirklich die gesamte Gesellschaft, ist ein Fazit von ihren Reisen und ihrem Nachdenken über ihr Geburtsland: "Wenn es kein gemeinsames Verständnis der Geschichte gibt, dann bringt das die Leute auch dazu, ganz komplett verschiedene Interpretationen zu haben, von dem, was vorgefallen ist.
"Das ist die Erfahrung, die ich eben mit meinem Onkel in Tel Aviv gemacht habe. Seine Haltung war geprägt von der Doktrin der Sowjetunion", sagt sie. "Ich dagegen, die zum Teil in der Ukraine und in den USA aufgewachsen bin, hatte da eine ganz andere."
Wie ihre Familie seien viele Familien in der Ukraine ein Mikrokosmos an Haltungen. "Das ist auch ein Teil der Faszination, was die Ukraine ausmacht, diese Komplexität der Identitäten. Und in diesem Sinne denke ich, dass die Sowjetzeit mit ihrem Schweigen und all diesen Traumata, die sie verursacht hat, die Ukraine sehr tief geprägt hat."

Schock der Krim-Annexion

Als sie angefangen habe, das Buch zu schreiben, habe sie nichts von dem erwartet, was 2022 passiert ist, ebenso wie sie nicht damit gerechnet habe, dass die Krim annektiert werden würde, sagt sie. "Ich muss sagen, dass die Ereignisse von 2014 noch schockierender für mich waren, weil sie wirklich einen klaren Bruch mit allem Unschuldigen bedeutet haben, mit meiner eigenen Unschuld, mit der ich an diese Dinge herangegangen bin."
Alles was ihr bis dahin als normal und gegeben erschienen sei, sei komplett infrage gestellt worden: "Das betraf sowohl meine Familie, mich selbst, aber auch eben meine Beziehung zur Ukraine als Land."
Mit dem brutalen Krieg 2022 sei ihre Welt dann erneut komplett umgekrempelt worden. "Damit musste ich erst mal klarkommen."

Um das Land kümmern wie um einen Garten

Belims Meinung nach markiert die Invasion im Februar 2022 eine große Veränderung: Zuvor habe es immer wieder Ereignisse und Entwicklungen der Hoffnung gegeben – die Orangene Revolution 2004/05, die Maidan-Proteste – aber danach sei alles wieder zurückgerutscht zum Chaos und zur Korruption. "Bei der russischen Invasion ist jetzt aber ein wirklich großer Wandel zu sehen, und zwar darin, wie die Ukrainer ihrem Land beistehen", sagt Belim.
In dem Krieg gebe es viele hoffnungsstiftende Kleinigkeiten, die zeigten, was Menschen gemeinsam bewirken können: "Ich denke, in diesem Sinne wird die Ukraine nach dem Krieg nie wieder der gleiche Ort sein. Und es wird sich auf jeden Fall etwas tun und Veränderungen geben."
Inzwischen nehme sie die Ukraine als ein Land mit einem sehr starken Geist wahr: Die Menschen engagierten sich sehr für das Land.
Der Garten ihrer Großmutter könne vielleicht auch ein Beispiel sein dafür, wie man sich um sein Land kümmern könne, um das, was einem gehöre, was einem wichtig sei, sagt Belim: "Jetzt habe ich die Hoffnung, dass der Krieg zu Ende geht, dass ich mich dann auch um den Kirschgarten meiner Großmutter kümmern und da sein kann."
(mfu)

Victoria Belim: "Rote Sirenen - Geschichte meiner ukrainischen Familie"
Übersetzt von Ekaterina Pavlova
Aufbau, Berlin 2023
350 Seiten, 22 Euro

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