Tanya Pyankova: "Das Zeitalter der roten Ameisen"

Das Martyrium verhungernder Menschen

06:39 Minuten
Das Buchcover von "Das Zeitalter der roten Ameisen" zeigt Spuren von Regentropfen an einer Fensterscheibe.
© Ecco Verlag

Tanya Pyankova

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten

Das Zeitalter der roten AmeisenEcco Verlag, Hamburg 2022

400 Seiten

22,00 Euro

Von Olga Hochweis · 05.11.2022
Audio herunterladen
Die in der Westukraine geborene Autorin Tanya Pyankova wagt sich an die literarische Bearbeitung der Hungerkrise der 1930er-Jahre ihres Landes. Das kollektive Trauma ist erst in den vergangenen Jahren erforscht worden.
Tot liegt die Mutter auf dem Fußboden. Aus dem Mundwinkel tropft, mit Speichel und Blut vermischt, eine Handvoll Getreide, die die Frau aus der Kolchose herausgeschmuggelt hatte. Mit letzter Kraft graben ihre beiden Kinder Korn für Korn aus dem leichenstarren Kiefer. Bildgewaltig beschreibt Tanya Pyankova in ihrem Roman „Das Zeitalter der roten Ameisen“ das Martyrium verhungernder Menschen: 

Tränen müssten uns überfluten und ertränken, (…) die Finger müssten uns brechen, die abwechselnd in Mamas Mund hineinkriechen, (…) um sie in den Taschen der Wangen zu suchen und hinter den verkniffenen Lippen hervorzurollen (...)

Als „Lehrstunde für das nationale Gedächtnis und Selbstbewusstsein der Ukraine“ bezeichnet die Autorin ihren Roman. 1985, in der Westukraine geboren, wagt sie sich an die literarische Beschäftigung mit einem kollektiven Trauma, das viele Jahrzehnte tabuisiert war und erst in den letzten Jahren erforscht wurde.

Eine Hungerkrise als kollektives Trauma

Ihr Roman geht zurück in die 1930er-Jahre. Damals kam es in der Ukraine infolge der brutalen Zwangskollektivierung in der Sowjetunion zu einer beispiellosen Hungerkrise. Dem sogenannten „Holodomor“ (zu deutsch: „Töten durch Hunger“) fielen geschätzt 4,5 bis 7 Millionen Menschen zum Opfer.
Stalin setzte den Hunger als gezieltes Mittel ein, um die widerständige ukrainische Bauernschaft zu liquidieren, deren Besitz wurde beschlagnahmt und systematisch ausgeplündert. In ihrer Verzweiflung setzten Menschen ihre Kinder aus, verspeisten die Körper ihrer verhungerten Angehörigen. Viele verloren den Verstand. Die Überlebenden blieben schwer traumatisiert.
Der Roman „Das Zeitalter der roten Ameisen“ spielt im Titel auf Stalins gefräßige Schergen an, die sich in Windeseile ausbreiteten und schonungslos in jeden menschlichen Winkel krochen. Als Mikrokosmos der ukrainischen Gesellschaft dient das Dorf Matschuchy unweit der zentralukrainischen Stadt Poltawa. Drei Erzählstimmen kommen in der Ich-Perspektive abwechselnd zu Wort und bilden ein Triptychon konträrster Lebensverhältnisse.

Der Hunger wartet "mit baumelnden Beinen"

Da ist die schwer hungerleidende 19-jährige Dusya – Tochter eines Bauern, der nach Sibirien verschleppt wurde, nachdem er sein Land nicht der Kolchose übergeben wollte – und Solya, die Frau des ortsansässigen Parteivorsitzenden, die nach dem Tod ihres kleinen Kindes an einer Psychose leidet und in einem Sanatorium gegen ihre anhaltenden Fressattacken behandelt wird.
Und schließlich gibt es Swyryd, der als Vertreter der kommunalen Verwaltung auf Täterseite steht, immer wieder aber mit seinem Gewissen in Konflikt kommt. Im Fortlauf der Geschichte, die kammerspielartig mit einer Handvoll Nebenfiguren und Alltagsrealien ausgestattet ist, treffen die Figuren in einer raffinierten Engführung aufeinander.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Die zentrale Hauptfigur ist aber der Hunger selbst. Er tritt im Roman durchgängig personifiziert auf, etwa als „Habicht, der über die Menschen kreist“ oder als „gelbes Wasser, das aus der Haut tritt“. Er fährt durchs Dorf und schwingt seine Gabel, reißt Haarbüschel aus den Köpfen der Menschen, wartet geduldig auf seine Opfer, mit baumelnden Beinen auf dem Ofen sitzend.
Die stilisierte Metaphorik verleiht der realistischen Erzählweise des Romans eine surreale und quasi halluzinierende Ebene, die die Monströsität des Stoffs über das menschlich Fassbare körperlich erfahrbar macht. Anonymen Statistiken begegnet Tanya Pyankova in ihrem Roman mit eindringlich gezeichneten individuellen Schicksalen und entwirft das Psychogramm einer traumatisierten Gesellschaft. Keine der Geschichten sei erfunden, schreibt sie in ihrem Nachwort. Ihr Roman bietet keine einfache, dafür eine umso nachhallendere Lektüre-Erfahrung.
Mehr zum Thema