Die literarische Szene in der Ukraine

Im Angesicht des Krieges

30:10 Minuten
Eine verbrannte Haustür in einem kaputten Haus. Davor steht ein Stuhl.
Zahlreiche Autoren und Autorinnen beschäftigen sich schon seit Jahren in ihren Werken mit dem Krieg in ihrem Land. © picture alliance / ZUMAPRESS / Sergii Kharchenko
Von Lerke von Saalfeld · 25.03.2022
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Bereits 2015 überschattete der Krieg im Osten der Ukraine das ganze Land. Doch mit der Unabhängigkeit, der orangenen Revolution und dem Aufbruch des Euromaidan war ein kulturelles Selbstbewusstsein entstanden, das auch die Schriftsteller elektrisierte.
„Alle Bürger der ganzen Ukraine: Uns eint jetzt etwas, das man im Westen vor allem hier in der Zone von Komfort und Sicherheit, inmitten des sogenannten alten Europa, immer schlechter versteht, das Leiden.“
Von geradezu gespenstischer Aktualität sind diese Worte des vielfach ausgezeichneten ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowytsch. Er sagte sie bei der Eröffnungsrede der Internationalen Buchmesse in Wien im November 2014. Ihn empörte die Apathie des westlichen Europas, das den mit der Annexion der Krim bereits damals stattfindenden Krieg nicht wahrhaben wollte:

 „Eine Zone von Tod und Grausamkeit“

„In der Ukraine wird Blut vergossen, und das ist noch milde ausgedrückt, denn, wenn ich anfange, zu beschreiben, auf welche Art Blut vergessen worden ist, dann würden Sie erschrecken. Ich belasse es dabei zu sagen, dass die Ukraine in eine Zone von Tod und Grausamkeit geraten ist, eine Zone entsetzlicher und bitterer Prüfungen. Das geschah nicht aus ihrem freien Willen.
Sie ist nicht dorthin gestrebt, sondern zu Ihnen, nach Europa, in eine ganz entgegengesetzte, warme und komfortable Zone. Aber wie es scheint, musste sie dorthin geraten, wo sie jetzt ist. Sie wurde gewaltsam dorthin getrieben, aber nicht etwa durch irgendwelche mystischen Kräfte, sondern ganz einfach durch eine militärische Macht.“
Bei einer Reise 2015 durch die westliche Ukraine, durch Galizien und die Bukowina, ist bald zu spüren, dass die Atmosphäre in der Bevölkerung auch hier, fern vom Krieg im Osten des Landes, nervös aufgeladen ist. Kaum eine Familie, die nicht Angehörige oder entferntere Verwandte im Krieg hat.
Auf den Straßen sieht man Soldaten in kleinen Gruppen, an den Bahnhöfen sammeln sich die Kämpfer, darunter viele Freiwillige, um an die Front zu fahren. Der Krieg liegt wie ein Albtraum über dem ganzen Land. Die Stimmung ist gedrückt, aber zugleich aufgeladen von einem patriotischen Gefühl, sich nicht besiegen lassen zu wollen.

Literarisch Stellung beziehen

Kaum ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin in der Ukraine, die nicht literarisch Stellung bezieht und sich einmischt. Mit an vorderster Front steht der Kult-Poet und Sänger Serhij Zhadan, er lebt im Osten der Ukraine, in Charkiw, nur 50 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Unermüdlich ist er mit einer Band und zu Lesungen im ganzen Land und auch in Russland unterwegs.
„Befreite Gebiete“ lautet der ironische Titel einer seiner reportagehaften Erzählungen über den Krieg:
„Der alte VW-Bus, in dem wir unterwegs sind, ist voll beladen mit Medikamenten, warmer Kleidung und Schuhen. Die freiwilligen Helfer wissen, dass an einer Straßensperre alles gebraucht wird, von Kleidung bis zu den herkömmlichen Akkus. Die Soldaten der regulären ukrainischen Armee stehen wochenlang im Feld, der Staat erweist sich in dieser Situation als traditionell schwerfällig und viel zu langsam, deswegen kümmern sich die einfachen Bürger um die Armee…
Andrij fährt regelmäßig von Charkiw in den Donbass, er hat feste Routen, pflegt Verbindungen zu bestimmten Einheiten. Mich und Hrzy, den Musiker einer Kiewer Band, nimmt er eher zur Unterstützung mit, damit wir den Soldaten etwas vorlesen, mit ihnen reden und selbst was sehen können.“
Serhij Zhadan reist mit seiner Pop-Band "Sobaki v kosmose" – zu deutsch "Hunde des Weltalls" – aus dem ostukrainischen Charkiw durch Städte und Provinzen, weil sie spüren, dass der Hunger nach Kultur groß ist.

Eine Prüfung in Mitgefühl

Zhadans Erzählung „Befreite Gebiete“ endet in einer Mischung aus Zorn und Trauer:
„Das Land wird nicht nur durch den Krieg auf eine Bewährungsprobe gestellt, das Land erlebt darüber hinaus auch eine Prüfung in Mitgefühl, in der Fähigkeit, gemeinsam innerhalb derselben Grenzen zu leben und Toleranz zu üben, sich gegenseitig verstehen zu müssen.
Jetzt, wo es nicht nur um unterschiedliche Vorstellungen vom gemeinsamen Leben, sondern um die Notwendigkeit des gemeinsamen Überlebens geht, sind diese Fragen besonders unangenehm. Sie werden weiterhin vor uns stehen, uns die Realität aufzeigen, uns auf die Erde holen, sie werden uns zwingen, nach Auswegen zu suchen, sie werden uns im Weg stehen. Wie alle die Sperren auf den Straßen, die aus dem Donbass führen.“
Literatur im Angesicht des Krieges ist für alle Kulturschaffenden eine Herausforderung. Die einen sind ihr gewachsen, die anderen nicht unbedingt, wie Zhadan im Herbst 2015 beim Meridian Lyrik-Festival in Czernowitz feststellte:
„Die Ukraine lebt diesen Krieg, nix Lokalkonflikt. Den Krieg fühlen alle Leute, die hier wohnen. Viele Autoren schreiben davon und fahren regelmäßig nach Osten, in den Donbass, mit Lesungen. In der Ukraine gibt es schon viele Bücher über den Krieg, Prosabücher, Reportagen, Lyrikbände. Nicht alle sind gut und interessant. Muss man ein bisschen Zeit geben. Und dann kommt eine ganz neue, andere Literatur. Vielleicht diese Leute, die heute kämpfen, die heute in der Armee sind, vielleicht müssen sie das schreiben.“

Protest gegen den Krieg

Zhadan, Jahrgang 1974, spricht für die junge Generation, um gegen den Krieg zu protestieren. Einen anderen Weg schlägt Walentin Silvestrow ein, 1937 in Kiew geboren. Als Komponist wurde er Ende der 1960er-Jahre aus dem Komponistenverband der UdSSR ausgeschlossen und erhielt Auftrittsverbot. Längst ist Silvestrow auf das musikalische Podium zurückgekehrt. Er vertont alte ukrainische und russische Elegien für Piano und Sopran, als Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes. Sein Credo: Die Ukraine ist zwar ein zweisprachiges Land, aber Russisch und Ukrainisch verkörpern eine Kultur.
Juri Andruchowytsch, der in seinen Schriften und in Gesprächen ironisch und maliziös die Zeitläufte charakterisiert, hebt stets hervor, dass wir in parallelen Welten leben. Wir leben im Krieg, und wir leben im Frieden – eine schizophrene Situation, wie man in der Ukraine immer wieder erfährt. Was heute klar zu sein scheint, ist morgen schon fragwürdig. Das Land ist im Umbruch, und wie es enden wird, das weiß keiner. Auch die Frage: Im Land bleiben oder ausreisen, quält die Menschen. Andrej Kurkow, 1961 in St. Petersburg geboren und heute in Kiew lebend, hat auf Russisch ein „Ukrainisches Tagebuch“ verfasst, „Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests“:
„Ich lebe mit meiner Familie im Zentrum von Kiew, 500 Meter vom Maidan entfernt. Vom Balkon unserer Wohnung aus sahen wir den Rauch der brennenden Barrikaden, hörten die Explosionen der Granaten und die Schüsse. All diese Zeit ging das Leben weiter, blieb kein einziges Mal stehen. Ich weiß nicht, wie das alles enden wird. Ich kann nur auf das Beste hoffen. Ich reise nicht aus. Verstecke mich nicht vor der Realität. Ich lebe jeden Tag darin.“

Land am Rand

Faszinierend ist die Offenheit und Experimentierfreude der Schriftsteller:innen in der Ukraine und dies, obwohl Ukraine "Grenzland" heißt, das vergessene Land an der Peripherie. Jurko Prochasko, Übersetzer, Essayist, Psychoanalytiker, in Lemberg lebend und das wandelnde historische Gedächtnis dieser Stadt, hat seine eigene Theorie und benutzt den Begriff von den unauratischen Kulturen. Der Westen übe unangefochten die kulturelle Hoheit in Europa aus, während der Osten, vor allem Lemberg, in der Vergangenheit zwar ein literarischer Topos gewesen, heute aber verdrängt und vergessen sei:
„Ich nenne unauratisch diejenigen Kulturen, denen keine Aura vorauseilt, die nicht anziehend sind, die nicht erotisch sind, wo man nicht unbedingt hinfährt, einfach so. Und noch schlimmer, wo man nicht hinfährt und wo man sich nicht damit beschäftigt aus Interesse. Und damit meine ich überhaupt nicht nur ein kulturelles Interesse, sondern auch politisches Interesse, geschichtliches Interesse. Diese Tendenz verstärkt sich auch durch die Globalisierung und durch die Mobilität der heutigen Welt, dass manche Kulturen, eben auratische Kulturen immer mehr und mehr auftraten als Hegemon und andere Kulturen immer stärker in den Hintergrund geraten.“

Literarische Mythen

Jurko Prochasko lebt in der Westukraine. Gerade diese Gebiete, Galizien und die Bukowina, sind durch ihre deutsch-jüdischen literarischen Traditionen hoch besetzt, von Joseph Roth über Gregor von Rezzori bis zu Paul Celan und Rose Ausländer, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Vor hundert Jahren waren das auratische Orte, umgeben von einem literarischen Mythos. Ilma Rakusa, die Essayistin, Übersetzerin und Spezialistin für den europäischen Osten, empfindet Czernowitz, den Geburtsort von Paul Celan, damals noch Paul Antschel, weiterhin als einen magischen Anziehungspunkt:
„Es ist ein Sehnsuchtsort, weil das eine Stadt war, die zur Monarchie gehörte, und selbst danach, nach dem Zerfall der Monarchie, noch ein wirklich intensives Leben geführt hat, auch kulturell mit vielen deutschen Zeitungen, internationalen Zeitungen. In dieser Verdichtung fand ich dies Czernowitz immer exemplarisch.“
Eine Literatur mit so kosmopolitischen und vielsprachigen Traditionen, denn es gab auch polnische, rumänische, armenische, jiddische Autoren, trägt in sich die Neugier auf andere Kulturen. So ist es wohl kein Zufall, dass trotz der bedrohlichen Kriegssituation 2015 gleich drei literarische Begegnungen die Horizonte öffneten. Im August fand in Lemberg das erste deutsch-ukrainische Schriftstellertreffen statt. Sechs Autorinnen und Autoren aus der Ukraine und sechs aus Deutschland tauschten ihre Erfahrungen aus und lasen Texte. Kuratorin war Verena Nolte. Das Treffen in Lemberg stellte sie unter das Motto: „eine Brücke aus Papier“:

Bücher als Waffe

Im Oktober fand an einem weiteren Ort in der Ukraine, in Odessa, zum ersten Mal ein Internationales Literaturfestival statt. Wie Lemberg und Czernowitz, so ist auch Odessa ein magischer, ein mythischer Ort mit eigener Tradition. Hier lebten Alexander Puschkin, Adam Mickiewicz, Isaak Babel. Die Stadt am Schwarzen Meer ist reich an Legenden und strahlt eine multikulturelle Atmosphäre aus.
Zwei Dutzend Autorinnen und Autoren lasen und diskutierten. Es ist phänomenal, wie lebendig und einfallsreich sich das literarische Leben in der Ukraine behauptet. Die politische Stimmung ist wenig ermutigend, die Zukunft mag keiner mit Gewissheit voraussagen, und trotz alledem, die Vitalität, mit der sich diese Literatur jenseits aller Bedrohung präsentiert, beeindruckt. Evgenija Lopata bekannte bei der Ehrung zur ‚Jungen Europäerin des Jahres 2015‘ ihr unverbrüchliches Credo:
„Einige nehmen Waffen in die Hände und fahren nach Pervomask oder Lugansk, um unser Land für immer vor Russland zu schützen. Ich nehme Bücher in die Hand, und diese Waffe, glauben Sie mir, ist nicht schwächer.“
(DW)

Mitwirkende: Inka Löwendorf, Ole Lagerpusch, Bettina Hoppe
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Dorothea Westphal

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