Briefwechsel zwischen Autorinnen

Berührende Berichte über Flucht und Verfolgung

56:56 Minuten
Eine Gruppe von vollverschleierten Frauen stehen hintereinander in einer Schlange.
Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben es dort vor allem Frauen wieder schwerer - die Briefwechsel zeugen davon. © AFP / Hector Retamal
Moderation: Dorothea Westphal  · 02.09.2022
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Das Online-Portal „Weiterschreiben.Jetzt“ gibt geflüchteten Autor*innen ein Forum in Deutschland. Ein erschütterndes und berührendes Projekt sind die Briefwechsel zwischen drei afghanischen und drei deutschsprachigen Autorinnen.
Die junge afghanische Autorin Maryam Majube schreibt in einem ihrer Briefe von ihren Träumen: das ganze Land zu bereisen und einmal in den silbernen High Heels laufen zu können, die im Schrank stehen. Es sind unerfüllbare Träume, denn sie sitzt im Rollstuhl, wird also nie laufen können. Und sie lebt in Kabul, darf ohne Begleitung nicht auf die Straße.
Der Brief, in dem Maryam Majube davon erzählt, entstand im Rahmen eines  Briefwechsels, der bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban begann.

„Ich will mir selbst übrig bleiben“

Weiterschreiben.Jetzt“ ist ein Literaturportal, auf dem seit Mitte Januar sukzessive Briefe sowie seit Februar auch Erzählungen von afghanischen Autorinnen veröffentlicht werden.
An dem Brief von Maryam Majube habe sie vor allem der Übermut erstaunt, sagt Annika Reich, die künstlerische Leiterin des Projekts: „Sie verspricht sich mehrfach in den Briefen, niemals zu weinen, nicht über ihre Krankheit, nicht über ihr Land. Sie geht ganz unglaublich mit ihren Ängsten um und auch mit den Steinen, die ihr das Leben in den Weg gelegt hat. Und sie schreibt an einer Stelle: 'Ich will mir selbst übrig bleiben.'"
Das habe sie sehr bewegt bei diesem Austausch, sagt Reich: "Dass wir es mit afghanischen Autorinnen zu tun haben, die in der schwierigsten Situation, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, stecken und solche Sätze schreiben.“

"Weiter schreiben" - Annika Reich im Gespräch

07.02.2022
07:04 Minuten
Auf dem Logo der Sendung "Büchermarkt" ist ein stilisierter Bücherstapel zu sehen.
Auf dem Logo der Sendung "Büchermarkt" ist ein stilisierter Bücherstapel zu sehen.

Briefe "ins Ungewisse hinein"

Seit fünf Jahren widmet sich „Weiterschreiben.Jetzt“ Autorinnen und Autoren aus Kriegs- und Krisengebieten. Für das Projekt gab es eine Ausschreibung in Afghanistan, noch vor der Machtübernahme der Taliban.
Eine Jury wählte aus. Drei Tandems wurden gebildet. Auf deutschsprachiger Seite waren das neben Daniela Dröscher und der Schweizer Autorin Ilma Rakusa die in Berlin lebende Autorin Marica Bodrožić.
Was hat sie bewogen, sich an dem Projekt zu beteiligen? „Da war etwas an diesen ganzen Geschichten, die ich ja auch erzählt bekommen habe, das mich tief berührt hat“, sagt Bodrožić. „Nämlich einerseits der Aufbruch in die Freiheit und zugleich eine Begrenzung in diesem Aufbruch. Diese Schnittstellen in der menschlichen Seele, die bewegen mich auch in meinem eigenen Schreiben. Es sind eigentlich auch meine Lebensfragen.“
An der Briefform, gerade bei jemandem, die man nicht kennt, habe sie gereizt, dass immer auch die Vorstellung der anderen Person eine Rolle spiele – das „Schreiben eines Textes ins Ungewisse hinein“.

Spirituelle Verbindungen

Wie die drei Tandems zusammenfanden, erzählt Annika Reich: „Bei Marica war das so, dass sie besonderes Interesse für Batool hatte, weil Batool eine Psychologieprofessorin in Kabul war." Inzwischen sei ist sie von dort geflohen, doch der Beruf sei ein ein erster Anknüpfungspunkt gewesen. "Die beiden tauschen sich ja dann in den Briefen auch über Viktor E. Frankl aus. Was mich besonders berührt hat: Dass sie Batool auch in ihrer Freiheit und in ihrem Reichtum und in ihrem Mut angesprochen hat. Und das ist etwas, was, glaube ich, dazu beigetragen hat, dass diese Verbindung stark wachsen konnte, dass alle drei Autorinnen erlebt haben, dass sie auch als solche wahrgenommen werden, als Menschen und nicht in erster Linie als Opfer der Taliban.“
Aus Sicherheitsgründen schreiben die drei unter Pseudonym. Zwei von ihnen sind inzwischen aus Afghanistan geflohen.
Batool vergleicht sich in ihrem ersten Brief nach einem ersten, missglückten Fluchtversuch mit einer Taube, der man die Flügel gestutzt habe.

"Bepackt mit meiner müden Seele"

So etwas zu lesen, berührt anders als das, was wir in den Nachrichten hören, und es drückt etwas ganz Wesentliches aus, wie Marica Bodrožić sagt: „Dieses Sein im Eigentlichen, das: 'Ich bin nicht das, was mir gesagt wird oder was die Gewalt von mir will, sondern ich bin dieser freie, florierende Raum. Ich bin der Mensch, der den Stift nimmt und der denkt.' Und das hat Batool mir in dieser ganzen Zeit gespiegelt. Und ich muss sagen, alles in mir verbeugt sich vor ihr. Es ist unglaublich, wieviel Kraft das auch in mein Leben hineingetragen hat.“

Marica. Wie geht es dir? Ich las Deinen Brief und habe dann stundenlang dagelegen und an die Decke gestarrt. Ich lauschte dem unregelmäßigen Knistern in den Stromkabeln, die lieblos aus der Deckenleuchte über mir herausquellen, während kontinuierlich Sätze aus Deinem Brief in meinen Gedanken vorüberzogen.

Aus einem Brief von Batool

So beginnt ein Brief von Batool, in dem sie auf äußerst bewegende Weise schildert, welche Begebenheit sie dazu veranlasst hat, mit ihrer Familie aus Kabul zu fliehen. Bei einem Einkauf in einer Bäckerei hatte ein Talibankämpfer versucht, ihr ihren Sohn wegzunehmen. Nur dank ihrer großen Geistesgegenwart gelang es ihr, ihn davon abzubringen.

Das Land, meine ganze Vergangenheit. Ich muss alles, was ich besitze, und alles, was ich aufgebaut habe, zurücklassen und mich, bepackt mit meiner müden Seele und Angst vor einer Zukunft, in der für mich noch alles im Dunkeln liegt, weiterschleppen. Ich muss weiter, weiter, weiter, bis ich zu einem Ort gelange, an dem ich diesem Nichtsein, diesem Nicht-Gewesen-Sein, wieder eine Lebendigkeit verleihen, es mit den Worten Frankels mit Sinn verbinden kann, wo ich grünen, wachsen und wurzeln kann. Und das alles nicht allein, sondern mit allen meinen Kindern. Meine ganze Zukunft lang.

Aus einem Brief von Batool

Briefe als Lichtfenster

Zu einem Lichtfenster seien ihr die Briefe geworden, schreibt Batool an Marica Bodrožić, die den Kontakt zu ihr und die geglückte Flucht als ein Geschenk empfindet: „Es ist ein Geschenk für mich und auch für mein Leben. Und ich denke, für alle, die diese Geschichte hören. Denn es ist auch eine Geschichte, die wir aus historisch brisanten Situationen kennen, die für andere auch erzählt ist, für die anderen, die stimmlos geblieben sind. Und ich bin sehr, sehr dankbar, dass ich das erleben durfte.“
„Es gibt einen Satz in Marica Bodrožićs‘ Brief", sagt Annika Reich: „Der heißt: 'Hier ist dort und dort ist hier. Dort ist unser aller Ort geworden.' Das ist das, was, glaube ich, dieser Briefwechsel oder alle diese Briefwechsel zeigen: Wir mögen hier in Sicherheit sein, aber wenn wir genau hinspüren und wenn wir Mensch sind, dann gibt es nur diesen einen Ort, an dem wir alle zusammenleben müssen. Und dieser Briefwechsel und diese Verbindung zwischen den Autorinnen zeigen, was passieren kann, wenn man sich darauf einlässt.“

Schreiben als Zuflucht

Batool hat die Antworten auf einige Fragen in ihrer Flüchtlingsunterkunft in Italien mit ihrem Smartphone aufgenommen. Auf die Frage, welche Rolle das Schreiben für sie spiele, antwortete sie:
„Zu schreiben ist die letzte Zuflucht vor dem Leid, die ich habe. Wenn meine Psyche auf keinem anderen Weg eine Entlastung findet, wenn auch das Sprechen nicht mehr hilft, dann flüchte ich mich ins Schreiben. Hier kann meine Psyche aufbegehren, sich freuen oder trauern. Mit dem Stift in der Hand werde ich wieder Herrin über das, was in mir vorgeht. Und er ordnet meine zerfaserten Gedanken.“
Die junge Autorin Maryam Majube ist dagegen noch immer in Afghanistan. In einem Brief vom September 2021 an die Schweizer Autorin Ilma Rakusa schreibt sie unter anderem:

Liebe Frau Ilma, meine liebe Freundin, liebe Schriftstellerin. Seit Tagen ist mir keine Idee für eine Geschichte eingefallen, und dieses Ohne-Idee-Sein quält mich sehr. Ich schrieb eine Geschichte, beendete sie, schickte sie zur Veröffentlichung und sie wurde veröffentlicht. Doch in der jetzigen Situation weiß ich nicht, wer sie lesen soll. Es quält mich, keine Leser zu haben und keine Schriftstellerin zu sein. Man kann eine Geschichte über den Krieg schreiben. Aber wie kann man eine Geschichte im Krieg beziehungsweise im Putsch schreiben?

Aus einem Brief von Maryam Majube

Keine Zeit für Melancholie

Marica Bodrožić ist im Alter von zehn Jahren von Dalmatien nach Deutschland gekommen und hat selbst erfahren, wie es ist, Fuß fassen zu müssen in einem fremden Land. Vielleicht konnte sie sich deshalb auch besonders gut einfühlen in die Situation von Batool oder auch von Freshta Ghani zum Beispiel, eine der drei afghanischen Autorinnen, die jetzt in einer Flüchtlingsunterkunft in Tadschikistan ist.
Sie erzählt: „Interessanterweise habe ich selbst gar nicht den Gedanken gefasst, weil es so normal für mich ist. Aber als ich den Brief von Batool gelesen habe, wo sie sagt, sie wird neu beginnen, alles loslassen, da hatte sich bei mir diese Urkraft des Beginnens gezeigt - etwas, das mein Leben und mein Schreiben ganz tief prägt und mich immer wieder auch innerlich neu auf den Weg bringt. Das ist das, was ich kenne. Ich weiß, was man alles loslassen muss, dass man keine Zeit für Melancholie oder Sentimentalitäten hat. Es geht wirklich immer um alles. Und vielleicht ist das auch mein Zugang zur Sprache. Nichts kann so pathetisch sein, wie das Leben ernsthaft ist. Und aus diesem Ernst heraus schreibe ich. Und aus diesem Ernst heraus haben diese Autorinnen auch geschrieben.“

Gegen alle Widerstände

Die Briefe waren der Auftakt. Jetzt gibt es auch literarische Texte der drei afghanischen Autorinnen. Freshta Ghani zum Beispiel habe erzählt, sagt Annika Reich, "dass es auch schon vor der Machtübernahme schwierig war, als Frau etwas zu veröffentlichen – auf der gesellschaftlichen Ebene, aber auch familiär. Sie ist die Tochter eines radikalen Mullahs, und ihre Familie hat ihr Schreibverbot erteilt. Es gibt ganz unterschiedliche Hemmnisse und Widerstände, die diese Autorinnen überwinden müssen. Aber alle, mit denen wir zu tun haben, haben diese Hindernisse überwunden und haben ihre Geschichten erzählt.“
In der Erzählung von Freshta Ghani geht es um eine Frau, die verachtet wird, weil auch ihr achtes Kind wieder nur ein Mädchen ist. „Die achte Tochter“ heißt diese Erzählung. In einer Passage am Ende der Erzählung - nach der Entlassung der Frau aus dem Krankenhaus, weil sie eine Frühgeburt erlitten hat - heißt es:

Als ich ins Haus komme, bewerfen mich Frauen mit Konfekt und kandierten Nüssen. Ich denke nicht, dass jemand so willkommen geheißen wird, weil er eine Tochter auf die Welt gebracht hat. Sie sagen zu mir: "Alle gratulieren uns". Ich muss lächeln und bedanke mich, weil ich mit allen anderen willkommen geheißen werde. Da sagt eine Frau zu meiner linken Seite: "Ich sehe zum ersten Mal, dass eine Frau sich freut, wenn ihr Gatte sich eine zweite Frau genommen hat." Ihre Worte treffen mich so, als hätte jemand kochendes Wasser über meinen Kopf gegossen. Meine Beine werden schwach. Mir schnürt es die Kehle zu. Meine Augen sind ganz trocken. Ich kann nicht einmal weinen.

Aus einer Erzählung von Freshta Ghani

Ein Auftrag zum tieferen Sehen

Was macht schreibende Frauen gefährlich? Auf diese Frage antwortet Marica Bodrožić: „Sie haben einen anderen Blick, einen Blick, der synästhetisch ist, der das eigene Empfinden in sich bündeln kann, aber eben auch schaut, wie ist eigentlich die Welt, in der ich lebe. Und das ist natürlich für alle eine Herausforderung, denn das, was diese schreibende Frau erzählt, müssen auch die anderen dann sehen. Wenn es veröffentlicht ist, ist es ein Auftrag, ein Auftrag zum tieferen Sehen. Das heißt, die Strukturen, in denen wir leben, fangen an, brüchig zu werden, indem es eine erzählt.“
In ihrem neuen Buch „Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme“  erzählt Marica Bodrožić von Flucht und Widerstand im Zweiten Weltkrieg und zieht Parallelen zu heute: „Das zwanzigste Jahrhundert spricht zu uns in diesen vielen Fluchten und unglaublichen Leiderfahrungen“, sagt sie. „Und wir müssen aus dem zwanzigsten Jahrhundert alles noch mal neu lernen, weil wir in eine Gemütlichkeit des Geistes gekommen sind und das Ganze in einer Vergangenheit verortet haben, die scheinbar nur im Repetitiven mit uns etwas zu tun haben soll. Das ist aber nicht der Fall. Die Schicksale all dieser Menschen, die ich beschreibe, sind auch die Schicksale der heutigen Menschen, die auf der Flucht sind.“
„Es geht darum, sich die Welt nicht schönzureden“, ergänzt Annika Reich, „sich nicht einzurichten in dieser ständig sich wiederholenden Selbstbetäubung, sondern sehr genau zu schauen, wo und wie die Welt gerade funktioniert und sich trotzdem ohne jegliche Naivität für einen sehr nachhaltigen Optimismus zu entscheiden.“
Die Briefe und Texte sind zu finden unter www.weiterschreiben.jetzt.
Das Projekt wird inzwischen mit weiteren Autorinnen und Briefpartnerinnen weitergeführt.
(dw)
Die Sendung ist eine Wiederholung vom 25. Februar 2022.
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