Taliban-Streit in Afghanistan

Fundis gegen Internationalisten

25:54 Minuten
Sicherheitskraft mit Maschinengewehr in Kabul
Sicherheitskraft in Kabul: Mitte August haben die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen. © picture alliance / AA / Haroon Sabawoon
Von Emran Feroz · 02.08.2022
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Mädchen dürfen ab der 7. Klasse nicht mehr zur Schule gehen in Afghanistan. Das kritisieren international ausgerichtete Taliban in Kabul. Aber noch haben die Hardliner um Anführer Haibatullah Akhundzada die Oberhand. Unter dem Streit zwishen Fundis und Internationalisten leiden vor allem die afghanischen Mädchen.
Vor wenigen Wochen landete ein prominenter Rückkehrer am Kabuler Flughafen: Farooq Wardak war einst Bildungsminister unter Präsident Hamid Karzai in Afghanistans. Als die Taliban anrückten im August 2021, floh er wie viele andere Politiker aus dem Land.
Jetzt wurde er von einem Taliban-Empfangskomitee begrüßt und sagte gegenüber dem staatlichen TV-Sender RTA World: „Eine große Anzahl unserer Landsleute denkt darüber nach zurückzukommen und ihrem Land zu dienen. Nur wenige wollen nicht zurückkommen. Einige Freunde, die davon gehört haben, dass ich zurückkomme, meinten, dass das die Chancen für sie erhöht, auch zurückzukommen. Viele unserer Landsleute sind in Deutschland, Europa oder Dubai und sie sind interessiert an einer Rückkehr. Die Würde der Menschen kann nur respektiert werden im eigenen Land. Der Stolz, die Freunde und der Respekt sind hier. Das ist mein Zuhause und hier wird mein Grab sein. Wir sind hier mit unseren Leuten und sie sind mit uns.“
Mann mit grauen Bart: der ehemalige Bildungsminister Afghanistans Faruk Wardak
Faruk Wardak war Bildungsminister von Afghanistan und gilt als Symbolfigur für die Korruption in der ehemaligen Regierung Karzai.© picture alliance / dpa / Can Merey
Dieser Auftritt war ein kleiner Scoop der Taliban-Regierung, der dementsprechend zelebriert wurde. Jetzt können sie sagen, die Amnesie, die sie nach der Machtübernahme versprochen habe, gilt sogar für frühere Regierungsmitglieder. Auch, wenn gleichzeitig weiterhin im Land nach früheren Polizisten oder Soldaten gesucht wird, um sich an ihnen zu rächen, weil sie einst gegen die Taliban gekämpft hatten.

Korruption führt zu Geisterschulen

Der 63-jährige Wardak ist bis dato der höchste Offizielle, der im vergangenen Sommer gestürzten Afghanischen Republik, der in seine Heimat zurückgekehrt ist – trotz der neuen Herrscher. Die Rückkehr ist paradox, symbolisierte Wardak doch alles, wogegen die Taliban kämpften: Er gehörte zu den korruptesten Politikern Afghanistans. Sein Ministerium war unter anderem für die Existenz von sogenannten Geisterschulen zuständig. Durch die wurden regelmäßig ausländische Gelder in Millionenhöhe akquiriert.
Konkret handelte es sich dabei meist um leerstehende oder ausschließlich auf dem Papier existierende Gebäude, die als Schulen geführt wurden. Sie sind ein Grund dafür, warum bis heute in vielen Landesteilen Bildungseinrichtungen fehlen und Männer wie Wardak in den Karzai-Jahren steinreich wurden.
Während seiner Amtszeit lebte Wardak wie die meisten anderen Mitglieder des afghanischen Kabinetts in Saus und Braus und führte ein Jetset-Leben. Verschiedenen Berichten zufolge soll er mehrere Immobilien im Ausland besitzen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, einem Hort der afghanischen Korruption, besaßen Wardak und seine Ehefrau mindestens zwei Luxusimmobilien.

Taliban wollen Exodus stoppen

In früheren Interviews leugnete er die Existenz der Taliban und relativierte die Korruption. Diese Interviews wurden in Kabul nicht vergessen und lassen ihn wie einen Opportunisten aussehen.
Gleichzeitig dürfte die Taliban-Regierung bei den eigenen Anhängern an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie sich mit Männern wie Wardak öffentlich schmückt. Es zeigt, dass die Taliban versuchen, alle verfügbaren Kräfte einzubinden, um den Exodus von Millionen Afghanen aus dem Land zu stoppen und die internationale Isolation zu beenden. Dazu brauchen sie auch gemäßigte Kräfte.

Mädchenfeindliche Politik von oben

Besonders in der Kritik ist die systematische Diskriminierung von Frauen und Mädchen. Seit einem Jahr dürfen afghanischen Mädchen ab der 7. Klasse nicht mehr in die Schule gehen. In den Unterstufen und Universitäten ist der Unterricht erlaubt, allerdings mit strikter Geschlechtertrennung.
Verantwortlich für diese Politik ist jene radikale Fraktion, die während der ersten Taliban-Herrschaft bis 2001 auch gegen die Mädchenschulen vorging. Der aktuelle Premierminister der Taliban heißt Mullah Hassan Akhund. Er gehörte damals schon zu den engsten Vertrauten des verstorbenen Taliban-Gründers Mullah Omar, der genau für diesen frauenfeindlichen Kurs stand. Mehreren Quellen zufolge soll er gesagt haben, dass er sich ausschließlich der Lektüre des Korans widme und kein Interesse an anderen Bücher haben würde.
Mädchen sitzen mit Schulbüchern auf dem Boden.
Freiwillige unterrichten Mädchen, die seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan nicht mehr zur Schule gehen dürfen. © picture alliance / AA / Mohammad Noori
Ähnlich ist es auch bei dem aktuellen Führer der Bewegung: Mawlawi Haibatullah Akhundzada. Dieser soll vor Jahren gesagt haben, dass an säkularen Universitäten Männer wie Hamid Karzai, den die Taliban als Verräter und US-Kollaborateur betrachten, ausgebildet werden, während ein Mudschahed, ein Gotteskrieger, eine Medresse, eine Religionsschule, besucht.

Vize-Außenminister kritisiert Taliban-Anführer

Kritik an der Haltung des Taliban-Führers in der Frauen- und Mädchen-Politik hagelt es vom Vize-Außenminister Sher Mohammad Abbas Stanekzai: „Die Mädchen und Frauen unseres Landes haben das Recht auf Bildung. Das ist ihr vom Islam gegebenes Recht, und niemand kann ihnen das nehmen.“
Sher Mohammad Abbas Stanekzai hat in den vergangenen Jahren die Taliban-Außenstelle im Golfemirat Katar geleitet und führte mit den Amerikanern die Gespräche rund um den Abzug des US-Militärs aus Afghanistan.
Vize-Außenminister Sher Mohammad Abbas Stanekzai
Fordert mehr Rechte für Mädchen und Frauen: Vize-Außenminister Sher Mohammad Abbas Stanekzai.© picture alliance / AA / Sardar Shafaq
Stanekzai und sein Team wurden das Gesicht der „neuen Taliban“. Sie sprachen Englisch und gaben internationalen Medien Interviews. „Die klingen gar nicht so unvernünftig“, dachten sich auch viele internationale Beobachter.
Ähnlich verhielt es sich auch mit einigen jener Taliban, die sich im August vor der internationalen Presse präsentierten. Unter ihnen befinden sich Männer mit Hochschulabschluss, deren Töchter ebenfalls studiert haben und verschiedenen Berufen nachgehen.
Stanekzai selbst hat etwa einen bürgerlichen Hintergrund und wuchs im Kabul der 1960er- und 70er-Jahre auf. Vor einigen Jahren sorgte sein Hochzeitsfoto für Aufsehen. Es zeigt ihn mit Schnurrbart und Anzug, während seine Frau – unverschleiert -- ein modernes, westliches Hochzeitskleid trägt. Und nun wird klar: Diese Männer waren zwar gut für die PR der Taliban, doch letzten Endes haben sie innerhalb der Bewegung kein Machtwort.

Hierarchie entscheidet bei Taliban

Aber sie erreichen eine jüngere, technikaffine Generation der Kämpfer in den sozialen Medien. Und sie werden in westlichen Medien zitiert. Letztlich entscheidet aber die Hierarchie der Taliban, erklärt Ahmed-Waleed Kakar, ein politischer Analyst und Publizist mit dem Schwerpunkt Afghanistan aus London: „Die Taliban sind eine ideologische, religiöse Gruppierung", sagt er. "Das bedeutet, dass sie dem Amir, ihrem Führer, zur Treue verpflichtet sind. Das ist ihre Pflicht aus religiösen Gründen."
Mann mit Turban und langem Bart: Taliban Akhundzada
Taliban-Führer Akhundzada lässt sich auch „Amir ul-Mumineen“ nennen – „Führer der Gläubigen“.© picture alliance / dpa
Die Hierarchie innerhalb der Taliban sei klar, obwohl in den letzten Jahren während des Krieges gegen die Amerikaner die Einheit der Gruppe oft hinterfragt wurde. "Es gab auch Versuche, sie zu spalten, wogegen sie sich wehrhaft zeigten. All dies bedeutet allerdings nicht, dass die Taliban komplett immun gegen eine mögliche Spaltung sind. Wir haben vor allem im Kontext der Mädchenschulen gesehen, dass sich Brüche zeigen, etwa zwischen den Internationalisten und den lokalen Traditionalisten unter den Taliban.“
Die politische Führung, von der Kakar spricht, sind die Hardliner um Taliban-Führer Akhundzada, der den religiösen Titel „Amir ul-Mumineen“ – „Führer der Gläubigen“ – trägt. Hinzu kommt auch eine geografische Trennung zwischen den verschiedenen Weltanschauungen.

Führung schottet sich in Kandahar ab

Während Stanekzai und andere „Internationalisten“ in Kabul verweilen, schottet sich die Führung im südlichen Kandahar ab und will mit der Außenwelt möglichst wenig zu tun haben. Damit entfremdet sie nicht nur die internationale Staatengemeinschaft, von der Afghanistan weiterhin abhängig ist, sondern auch die eigene Bevölkerung.
Akhundzada hält sich weiterhin bedeckt und hat bis dato seit der Machtübernahme der Öffentlichkeit kein einziges Mal sein Gesicht entblößt. Den Machtkampf der Taliban beschreibt Analyst Kakar so: „Die Internationalisten, die wir aus Doha kennen, wurden wohl vom traditionalistischen Kern der Gruppierung überstimmt. Vorerst ist das der Status quo, doch nichts ist auf Dauer in Stein gemeißelt.“

US-Drohne tötete gemäßigteren Taliban-Führer

Haibatullah Akhundzada stammt aus dem Süden Afghanistans, aus Kandahar, ist jetzt vermutlich 61 Jahre alt – soll früher unter der ersten Taliban-Regierung so etwas wie der Oberste Richter des Landes gewesen sein. Und er wurde 2016 der Nachfolger von Akhtar Mohammad Mansour nachdem dieser durch einen US-Drohnenangriff in Pakistan getötet wurde.
Im Gegensatz zu Akhundzada galt Mansour als Realist und Pragmatiker. Es war erst seine Tötung, die den Aufstieg des deutlich radikaleren Akhundzadas ermöglichte. Heute stehen die Taliban vor einem ideologischen Spagat, der praktisch unmöglich erscheint. Zunehmender Extremismus und Härte isoliert sie innerhalb der Afghanen und auf der internationalen Bühne. Doch Sanftheit und Nachsehen könnte dazu führen, dass sich Tausende der eigenen Kämpfer von der Führung entfremden und sich noch fanatischeren und blutigeren Gruppierungen anschließen.

"Islamischer Staat" bekämpft Taliban

Es ist die afghanische Zelle des sogenannten Islamischen Staates, die praktisch schon bereitsteht, um solche Männer aufzufangen. Sie gilt derzeit als größte Bedrohung für die Taliban und ist mittlerweile fast im ganzen Land aktiv.
Zu den Unterschieden, meint der afghanische Analyst Kakar: „Der IS strebt ein globales Kalifat an, während die Taliban derartige Interessen nicht verfolgen. De facto macht ihre Ausrufung eines Emirates deutlich, dass ihre politische Agenda an einer spezifischen, geografischen Region, die wir eben als Afghanistan kennen, gebunden ist.“
Ähnlich wie im Irak und in Syrien handelt es sich auch bei der afghanischen IS-Zelle um Extremisten mit einer salafistischen und global-dschihadistischen Weltanschauung, während die Taliban sich – trotz regelmäßiger Kritik – als traditionelle Sunniten der hanafitischen Rechtsschule sehen. Eine Annäherung gibt es nicht. Im Gegenteil: Mittlerweile führen die Taliban ihren eigenen „War on Terror“ gegen die Kämpfer vom "Islamischen Staat" und machen dabei dieselben Fehler wie ihre Vorgänger, sprich, die NATO und ihre afghanischen Verbündeten.
Die salafistische Prägung des Islams ist auch in einigen Regionen Afghanistans historisch verwurzelt. Es gab sie bereits Jahrzehnte vor der Entstehung des IS, was wiederum bedeutet, dass nicht jeder afghanische Salafist ein IS-Anhänger ist. Da die Taliban allerdings jegliche Salafisten unter Generalverdacht stellen und sie jagen und verschwinden lassen, kann dies zu einer Gegenreaktion führen, von der der "IS" profitieren könnte.

Desolate humanitäre Lage

Inmitten von all dem Chaos muss sich Afghanistan wirtschaftlich stabilisieren. Seit dem Abzug der internationalen Truppen befindet sich das Land praktisch im freien Fall. Außerdem ist es Ziel von Sanktionen, die in erster Linie nicht das Taliban-Regime treffen, sondern den durchschnittlichen Bürger. Dieser lebt de facto in einem Käfig, aus dem er nicht entrinnen kann. Dennoch versuchen tagtäglich Tausende von Afghanen, das Land zu verlassen, etwa über den Iran oder Pakistan. Das Geschäft mit überteuerten Reisedokumenten boomt, während die Afghanen in der Diaspora regelmäßig Geld in ihre Heimat schicken, um ihren Verwandten das Überleben zu garantieren.
Der britische „Economist“ fand jüngst lobende Worte für die Wirtschaftspolitik der Taliban. Durch Zolleinnahmen und Handel mit Mineralien würde das Regime täglich Millionen generieren. Doch -- und auch das stellt die Recherche des Magazins fest – den Hungertod vieler Afghanen wird all dies wohl trotzdem nicht verhindern.

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