Medien in Afghanistan

Kritische Berichterstattung im Rahmen des Möglichen

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Zwei afghanische Journalistinnen von Tolo News arbeiten im Büro.
Sie haben noch nicht aufgegeben: Zwei afghanische Journalistinnen des privaten Nachrichtensenders Tolo News. © imago-images / Le Pictorium / Adrien Vautier
Martin Gerner im Gespräch mit Vladimir Balzer · 15.08.2022
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Seitdem die Taliban wieder in Afghanistan herrschen, haben laut "Reporter ohne Grenzen" 60 Prozent aller Journalistinnen und Journalisten ihren Job aufgegeben. Der Afghanistan-Experte Martin Gerner skizziert die Lage.
Die afghanische Medienlandschaft ist seit der Machtübernahme der Taliban vor einem Jahr um fast 40 Prozent geschrumpft. Damit sind mehr als 20 Jahre Aufbauarbeit für einen freien Journalismus massiv in Gefahr. Laut "Reporter ohne Grenzen" arbeiten rund 60 Prozent der Medienschaffenden nicht mehr in ihrem Beruf. Besonders betroffen sind Journalistinnen: Drei Viertel von ihnen wurden arbeitslos. In elf Provinzen arbeiten gar keine weiblichen Medienschaffenden mehr.
"Je weniger Medien als Kontrollinstanzen im Land wirken, desto mehr können sich nicht nur die neuen Machthaber, sondern auch lokale Warlords und kriminelle Banden Platz verschaffen", sagt Martin Gerner, der jahrelang Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan ausgebildet hat.

Hilfe von Redaktionen aus dem Ausland

Die Einschüchterung der Redaktionen habe unmittelbare Folgen, so Gerner, vor allem in wachsender Selbstzensur. Viele Journalistinnen und Journalisten seien weitestgehend ungeschützt. Es gebe allerdings auch Versuche aus dem Ausland, ihnen durch Aufmerksamkeit und Arbeit zu helfen.
"Einige der früheren afghanischen Leitmedien, die jetzt aus dem Ausland schreiben, rekrutieren in letzter Zeit neue Journalistinnen und Journalisten im Land, von denen sie sich eine mehr oder minder kritische Berichterstattung erhoffen, im Rahmen des Möglichen. Das wird unter anderem durch Gelder der Open Society Foundations von George Soros unterstützt", berichtet Gerner.

Einige Freiräume sind noch vorhanden

In Afghanistan sei nicht alles so gleichgeschaltet, wie man vielleicht denken könnte, betont der Journalist und Krisenanalytiker:

Es gibt noch einige Freiräume. Die Taliban haben die Social-Media-Dienste bisher noch nicht verboten. Das mag mit dem Wunsch nach internationaler Anerkennung zu tun haben. Und es gibt auch Frauenradios, die aktuell senden. Die globale Vernetzung ist zu groß, als dass die Taliban nur mit Druck und vagen Drohungen zum Erfolg kämen.

Die westlichen Länder hätten nach wie vor eine Verantwortung, so Gerner. Es sei begrüßenswert, dass viele Hilfsorganisationen, die sich vor einem Jahr nur mit der damaligen Evakuierung beschäftigt hatten, nun ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Lage der Menschen im Land richteten.
(rja)
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