Kino in Afghanistan

Die Blütezeit ist unter den Taliban vorbei

11:18 Minuten
Ein Mann fegt nach einem Bombenanschlag in Kabul Glasscherben von einem zersprungener Fenster zusammen, 2006.
Früher bedrohten in Afghanistan vor allem Anschläge die einheimischen Kinos, heute ist es wieder die Taliban-Herrschaft. © imago / Xinhua
Martin Gerner im Gespräch mit Patrick Wellinski  · 13.08.2022
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Die großen Namen des afghanischen Kinos haben ihre Heimat verlassen und arbeiten im Ausland. Es bleibt die Sorge um das Filmerbe und die unklare Frage, wie unter den Taliban weiter Filme entstehen können. Als Drehort ist Afghanistan erstmal verloren.
Patrick Wellinski: Vor ziemlich genau einem Jahr übernahmen die Taliban erneut die Macht im kriegsgebeutelten Afghanistan. Seitdem wurde die Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit wie schon in den 1990er-Jahren massiv eingeschränkt. Das betrifft auch das Kino.
Vor der Machtübernahme der Taliban gab es Hoffnungen und auch positive Impulse für eine neue Kinolandschaft in Afghanistan. In den vergangenen Jahren sprach man immer wieder von einer neuen Blüte des afghanischen Kinos. Es gab viele Filmemacherinnen und -macher, die auch international für ihre Arbeiten anerkannt wurden.
Wie sieht es derzeit mit den afghanischen Kinos im Land selber aus? Haben sie geöffnet, werden Filme gezeigt?
Martin Gerner: Bis August 2021 gab es in Kabul noch etwa ein Dutzend Kinos, wobei diese zunehmend geschlossen waren aus Sicherheitsgründen. Als die Taliban noch in der Opposition waren und Anschläge verübten, hielten sie so die Besucher aus den Kinos raus.

Neue Tonalität bei den Taliban

Jetzt gibt es neue Direktiven, bei denen die neuen De-facto-Machthaber eine deutlich andere Tonalität an den Tag legen. Aber im Netz und in den Medien, die nach wie vor online sind, finden sich weiter Hinweise auf die staatliche Produktionsgesellschaft "Afghan Film". Sie hat neulich zwei kürzlich gedrehte Dokumentarfilme vor 40 Personen gezeigt. Die meisten waren männlich und Turban-Träger.
Mädchen sitzen in einem Kinosaal in Kabul. März 2022.
Für Mädchen und Frauen ist unter den Taliban die Zeit der Kinoerlebnisse vorbei.© picture alliance / Xinhua / Saifurahman Safi
Da ging es um den Wiederaufbau und die Reparatur einer Autobahn sowie einer Brücke im Westen Kabuls. Man hat viele Schwenks gesehen. Der Fernsehbericht wurde interessanterweise von einer jungen Frau vorgestellt, die ein lockeres Kopftuch trug.
Der neue Direktor von "Afghan Film" sagte: "Wir versuchen Unterhaltung zu produzieren, um die Aufmerksamkeit von Ausländern zu wecken, damit sie Afghanistan besuchen kommen." Das ist ein Topos, den man mittlerweile häufiger findet. Es geht um Anerkennung und darum, zu zeigen, dass das Land sicherer geworden ist. Das stimmt auch für Reisen im Land.
Sabiullah Mudschahid, der für Information und Kultur in dieser neuen De-facto-Regierung zuständig ist, sagte: "Afghanen sollen Filme machen über ihre Bedürfnisse." Was damit genau gemeint ist, hat er offengelassen. Die wenigen Filmemacher und Produzenten, die da waren, haben gesagt: Wenn wir einen Film oder TV-Serien wie in den Vorjahren produzieren sollen, dann geht das nicht ohne weibliche Darsteller und Musik. Da merkt man schon, wo der Schuh drückt.

Das gefährdete Filmerbe

Wellinski: Das ist ganz interessant, wenn man sich an die erste Taliban-Herrschaft ab Mitte der 1990er-Jahre erinnert, in der es de facto ein Bilderverbot gab. Kinos wurden geschlossen, Filme des Filmarchivs wurden verbrannt. Gehen die neuen Taliban jetzt anders mit dem filmischen Erbe des Landes um als ihre Vorgänger?
Gerner: Einige Unterschiede sind offensichtlich. 1996 wurden Teile des Archivs zerstört, zum Teil verbrannt. Es waren allerdings Kopien. Die Originale hatten verantwortliche Mitarbeiter von "Afghan Film" in Sicherheit gebracht.
Jetzt befindet sich seit einigen Jahren ein Filmarchiv im Präsidentenpalast. Es soll unangetastet bleiben. Das ist auch für die deutsche Seite nicht uninteressant, denn Deutschland und Frankreich haben viel Geld in die Digitalisierung afghanischer Filmbestände gesteckt.

Die Bedeutung des afghanischen Films

Wellinski: Vor der jetzigen Machtübernahme der Taliban traten immer mehr Regisseurinnen und Regisseure aus Afghanistan plötzlich international in Erscheinung. Wir haben Spielfilme aus Afghanistan auf großen Filmfestivals gesehen, in Cannes oder auf der Berlinale. Wie würden Sie die internationale Wahrnehmung beschreiben?
Die Regisseurin Roya Sadat im editing room in Kabul, 2020
Die Regisseurin Roya Sadat gehört zu den wichtigen Persönlichkeiten im afghanischen Film. Bis 2019 organisierte sie ein internationales Frauen-Filmfestival in Kabul.© AFP / Mariam Alimi
Gerner: Vor allen Dingen Frauen haben zuletzt für Furore gesorgt. Ich denke da an Roya Sadat, die noch bis 2019 ein internationales Frauen-Filmfestival in Kabul durchgeführt hat – mit rotem Teppich, Klein-Hollywood, wirklich sehr beeindruckend. Ich war damals in der Jury als jemand, der in den vergangenen Jahren auch Filmfestivals zu Afghanistan in Deutschland kuratiert hat.

Zu wenig Beachtung

Negativ ist anzumerken, dass damals keine internationale oder zumindest europäische Presse da war, die hätte beobachten können, wie Film unter Ausnahmebedingungen in diesen ganzen 20 Jahren entsteht, Filme von extrem jungen, zum Teil minderjährigen Filmemacher und -macherinnen, die flexibel, kreativ und autodidaktisch sind – mit wenig Geld und trotzdem mit eigenen Handschriften.
Themen waren vor allem die patriarchale Gesellschaft, häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen, Korruption. Damals, 2019, war die Rückkehr der Taliban schon ein Thema, über das wir sehr viel, sehr offen und sehr besorgt geredet haben. Das ist also nicht vom Himmel gefallen, gerade deswegen haben die meisten von Rang und Namen mittlerweile im Zuge der Evakuierungen das Land verlassen.

Flucht nach Deutschland

Wellinski: Einige sind auch nach Deutschland oder über Deutschland weiter geflohen. Die Regisseurin Shahrbanoo Sadat oder auch der Regisseur Hassan Fazili waren ja auch schon bei uns im Programm zu Gast und haben über ihre Flucht gesprochen. Inwieweit erschweren jetzt Flucht, Evakuierung, Umsiedlung die Filmarbeit dieser Autorinnen und Autoren?
Gerner: Wenn Sie sie selbst fragen, würden die meisten sicherlich sagen, sie haben alles verloren. Die meisten durften bei der Evakuierung nur sieben bis acht Kilogramm, einen kleinen Rucksack, mitnehmen und mussten innerhalb von wenigen Stunden aufbrechen. Das heißt, Laptops, Festplatten, Kameras, Ausrüstungen von Studios mussten zurückgelassen werden. Das Studio von Roya Sadat entspricht durchaus einem professionellen Produktionsstudio-Standard in Europa.

Verlorene Drehorte

Am wichtigsten ist vielleicht, die Drehorte sind natürlich verloren gegangen. Diese Filmemacher gewöhnen sich an ihr neues Leben hier langsam, aber wollen natürlich weiter ihre Stoffe über ihr Land drehen.
Die Teams sind aber versprengt, sowohl die Drehteams wie auch die Darsteller – nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Deshalb macht Roya Sadat jetzt mithilfe US-amerikanischer Oper-Veranstalter wahrscheinlich erst mal eine Oper, bis sich diese Dinge wiedergefunden haben.

Weltweiter Erfolg „Midnight Traveller“

Schon seit 2015 sind afghanische Filmemacher wie Hassan Fazili in Deutschland gelandet. Sein Film „Midnight Traveller“ war auf der Berlinale, aber auch weltweit ein Erfolg. Aber da ist auch ein knappes Dutzend von Filmemachern und Regisseurinnen, die wir noch nicht genug wahrgenommen haben.
Weshalb ist das spannend und interessant? Weil afghanische Filmgeschichte nach Deutschland geflohen und damit aus meiner Sicht Teil der deutschen Filmgeschichte geworden ist. Das wird noch zu wenig rezipiert.
Das führte bei Hassan Fazili vor zwei Jahren zu so absurden Zuständen, dass für ihn die Residenzpflicht in seinem Wohnheim in Deutschland galt, und er zugleich auf vielen Festivals bejubelt wurde. Wir haben uns bemüht, eine Reiseerlaubnis für ihn zu bekommen, aber das sind die Absurditäten, die eigentlich einen eigenen Film wert sind.

Schwierige Ankunft

Wellinski: Müssten diese Regisseurinnen und Regisseure nicht einen wesentlich einfacheren Zugang zur deutschen Filmindustrie erhalten? Wir sehen das jetzt mit ukrainischen geflüchteten Regisseuren und Regisseurinnen, die sehr stark an die Hand genommen werden und wo die Förderprogramme plötzlich sehr schnell zustande kamen. Bei den afghanischen Kolleginnen und Kollegen war das anscheinend nicht der Fall, wenn ich Sie richtig verstehe?
Gerner: Ja, das ist eine Aufgabe, sie einzubeziehen und bei Ankunft schnell zu informieren. Einige sind Stipendiaten der Martin Roth Initiative, die die Bundesregierung für Künstler und Künstlerinnen aufgelegt hat. Auf der anderen Seite müssen sie sich auch zum Teil etwas mehr bewegen. Selbst das Englisch ist bei einigen noch nicht so, dass man ohne Übersetzer auskommt.
Viele wollen durchaus deutsche Stoffe drehen, kennen aber die Förderlogiken in Deutschland noch nicht. Die Produzenten und die Sender haben noch vorsichtige Beziehungen zu einigen wenigen. Aber da gibt es noch so viele andere, die auch ihre Kollektivideen von früher weitertragen, sich aber noch fremd fühlen in dieser Welt. Da sind noch Aufgaben für die Zukunft.
Die Ukraine liegt näher an europäischen Produktionsbedingungen. Das Kulturelle spielt da eine große Rolle, aber das kann man alles mit gutem Willen überwinden.

Hoffnung auf Zusammenarbeit

 Wellinski: Wenn wir zum Ende unseres Gesprächs auf Afghanistan zurückblicken. Es sind nicht alle Filmemacher geflohen, einige sind vielleicht auch dortgeblieben. Welche Möglichkeiten bleiben denn aufstrebenden Filmemacherinnen und -machern vor Ort, einen Film zu machen?
Gerner: Das frage ich mich auch. Die Kommunikation ist jetzt schwerer. Aber weil so viele afghanische Filmemacher von Renommee im Ausland sind, engagieren sie sich aus dem Ausland. Ähnlich wie bei TV- und Radio-Medien hoffe ich, dass Initiativen entstehen, die Kooperationen vielleicht auch über die Ferne möglich machen und dass die neuen De-facto-Machthaber da Dinge nicht total verbieten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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