Krieg in der Ukraine

Leben unter russischer Besatzung

26:01 Minuten
Aufnahme im russisch besetzten Severodonetsk: ein Radfahrer, dahinter eine ausgebranntes Gebäude.
Severodonetsk ist von russischen Truppen besetzt. Dieses Foto wurde von der russischen staatlichen Nachrichtenagentur zur Verfügung gestellt. © picture alliance / dpa / TASS / Alexander Reka
Von Rebecca Barth · 01.08.2022
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Was passiert im besetzten Süden der Ukraine? Die ukrainische Regierung erhebt schwere Vorwürfe. Von Entführung, Folter und Mord ist die Rede. Die vor kurzem Geflüchteten erzählen von einer Atmosphäre der Angst, aber auch von anhaltendem Widerstand.
Ich fahre in den Südosten der Ukraine, nach Saporischschja, etwa acht Stunden Autofahrt von der Hauptstadt Kiew entfernt. In Saporischschja kommen täglich hunderte Geflüchtete aus den von Russland besetzten Gebieten an. Sie will ich treffen, um zu erfahren, was im Süden der Ukraine passiert ist, seitdem Russland die Region besetzt hält.
„Sind bei euch schon viele Russen?“, fragt mein Kollege Vitalij seine Mutter. „So viele, mit ihren Familien und Autos und Banken", erzählt sie. "Es gibt sogar einen Supermarkt, in den darf man nur mit russischem Pass.“ Vitalij stammt aus Cherson, Landeshauptstadt der gleichnamigen Region. Seit Anfang März ist die Stadt von den Russen besetzt. Vitalijs Mutter, sein Bruder und dessen Freundin leben immer noch in Cherson. Jetzt wollen sie fliehen, und wir wollen sie treffen. Auf der anderen Seite der Front, in Saporischschja – in der Ukraine.

Die Flucht ist gefährlich

Die Flucht aus Cherson und den anderen besetzten Städten ist gefährlich. Zurzeit gibt es nur einen Weg auf ukrainisch-kontrolliertes Gebiet: durch die Kleinstadt Wassyliwka, benannt nach Vassili Popow, ein Vertrauter des russischen Fürsten Potjomkin. Popows Schloss und der angrenzende Stausee sind die einzigen Sehenswürdigkeiten in Wassyliwka. Aber heute ist das Städtchen vor allem für eines bekannt: für die harten Kontrollen der Russen. Vier Checkpoints müssen die, die fliehen, allein hier passieren, erklärt Iwan Fjodorow. Bürgermeister von Melitopol. Die Situation dort ist schrecklich. Es stehen etwa 1200 Fahrzeuge dort, also mehr als 5000 Menschen. Gestern ist eine Person in der Warteschlange gestorben.“
"Die Leute vor uns stehen schon vier Tage", sagt Vitalijs Mutter. Wenn sie es nach Tagen durch den Checkpoint schaffen sollte, dann erwarten wir sie hier – am Epizentrum. So heißt eine bekannte Baumarkt-Kette in der Ukraine. Wir reihen uns ein in die Dutzenden, die täglich auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt auf ihre Verwandten aus den besetzten Gebieten warten.
Menschen im Dunkel auf einem Baumarkt-Parkplatz im ukrainischen Saporischschja. Hier warten Menschen auf die Ankunft ihrer Verwandten, die aus den russisch besetzten Gebieten der Ukraine fliehen.
Warten auf Verwandte aus den besetzten Gebieten. Wann sie ankommen, weiß niemand.© Rebecca Barth
Seit Monaten ist das Epizentrum der zentrale Ankunftsort für Geflüchtete. In verschiedenen Zelten können sich die Menschen registrieren, bekommen Hygieneprodukte, Tee und Nahrung. In einem Zelt kümmert sich Jelena Bodenko um die Kleinsten. „Das erste, was die Kinder fragen, wenn sie zu uns nach Saporischschja kommen: Gibt es hier keine russischen Soldaten? Warum fragst du, wollen wir dann wissen. Zu uns ins Dorf kamen die Russen und dann hat meine Mama sehr viel geweint.“

Kinder malen Panzer

Die Wände des Zeltes sind mit bunten Kritzeleien der Kinder bemalt. Herzen in ukrainischen Farben, die Namen von Städten, die jetzt unter russischer Besatzung stehen – und: wüste Beleidigungen gegen den russischen Präsidenten stehen da. Jelena greift nach einem Block. Sie will mir zeigen, was die Kinder malen. „Manche Kinder zeichnen Tiere", sagt sie. "Die meisten zeichnen ihr eigenes Haus. Aber sie malen auch sehr viele Panzer und sehr viel in roten Farben.“
Jelena Bodenko sagt, viele Kinder seien verängstigt, und die ukrainische Regierung erhebt schwere Vorwürfe gegen die russischen Truppen. Sie würden brutal gegen die Menschen in den besetzten Gebieten vorgehen. Von Entführung, Folter und Mord ist die Rede.
Flüchtlinge die aus der Ostukraine in Saporischschja ankommen.
In Saporischschja kommen täglich Hunderte Geflüchtete aus den von Russland besetzten Gebieten an.© picture alliance / abaca / Smoliyenko Dmytro / Ukrinform / ABACA
Was passiert im besetzten Süden der Ukraine? Um das zu verstehen, bin ich durch das Land gereist. 19 Menschen aus besetzten Städten und Dörfern haben ihre Geschichte mit mir geteilt. Die meisten sind mittlerweile weiter geflohen.

Lebensmittel und Medikamente sind knapp

Odessa, Südukraine: Hier treffe ich Ilona. Sie ist Journalistin. Ihre Heimatstadt Cherson hat sie im Juni verlassen. „Leben in Cherson heißt Schlange stehen", erzählt sie. "Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viel angestanden wie im ersten Monat. Fünf Stunden habe ich für Fleisch angestanden. Es gab nicht viel zu kaufen, nur wenige Geschäfte hatten geöffnet. Der erste Monat war der schwierigste.“
Cherson wurde schon in der ersten Kriegswoche von den Russen eingenommen. Wie das möglich war – bis heute ist das nicht ganz geklärt. Angeblich hätten die Russen gewusst, wo sich Minenfelder befinden. Kritik wird laut an der ukrainischen Führung, an Militär und Geheimdienst.
Präsident Selenskyj entlässt den Geheimdienstchef der Region und verhaftet seinen Stellvertreter. Aber für die Menschen im Süden ist es zu spät. Geschäfte schließen, Lebensmittel und Medikamente werden knapp. Neue Herrscher übernehmen die Stadt. Sie haben alles besetzt: das Gebäude der Landesverwaltung, den Stadtrat, das Gebäude des Geheimdienstes, die Polizei, also alle Schlüsselbereiche", sagt Ilona. "Dann führen sie einfach ihre Ordnung ein.“
Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Bewohner von Cherson wehren sich gegen die Besatzung. "Cherson ist Ukraine" rufen Demonstranten. Sie laufen mit ukrainischen Fahnen durch ihre besetzte Stadt, glauben, die russischen Soldaten vertreiben zu können. Aber die Demonstrationen werden zerschlagen.

Folter und Terror als russische Taktik

Russische Nationalgardisten feuern mit Tränengas auf die unbewaffneten Demonstranten, geben Warnschüsse ab. Es werden Menschen verhaftet und verprügelt – manche werden später tot aufgefunden. Ein Muster zeichnet sich ab. Zunächst im Fokus: Aktivisten, Journalisten, ehemalige Soldaten, Polizisten und gewählte Volksvertreter. Menschen wie Wiktor Maruniak. Er ist Dorfvorsteher in Stara Subrjiwka – einem Örtchen südlich von Cherson.
Mittlerweile ist er nach Lettland geflohen, dort erreiche ich ihn. An seinem 60. Geburtstag wurde er verhaftet. Von morgens bis abends: Verhöre, Schläge, Drohungen. Sie stellten mir Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Wir hatten kein Waffenlager in unserem Dorf. Wir hatten keine Territorialverteidigung, weil wir keine Zeit dafür hatten.“
Nach vier Tagen Folter bekommt Wiktor Maruniak das erste Mal etwas zu trinken: ein Glas Tee. Dann wird er zusammen mit anderen Gefangenen nach Cherson gebracht. Später findet er heraus, dass ihn die Männer in das besetzte Gebäude der Landespolizei gebracht haben. Dort befindet sich ein kleiner Gefangenentrakt – und die Folter geht weiter.
„Sie haben mich mit Strom gefoltert", sagt Wiktor Maruniak. "Zuerst legten sie Drähte an meine Daumen. Dann beschlossen sie, dass das nicht genug sei, und legten Drähte an meine Zehen und übergossen mich mit Wasser. Ich erinnere mich nicht an das Gefühl, weil ich schon vier Tage lang verprügelt worden war.“
Über drei Monate ist das nun her, doch noch immer sind Wiktor Maruniaks Verletzungen nicht geheilt, berichtet er. Auch die Verhaftungen und die Folter in den besetzten Gebieten haben nicht aufgehört – so erzählen es Geflüchtete und Menschenrechtler.
Yulia Gorbunova und ihr Team von Human Rights Watch haben für ihren aktuellen Bericht über 40 Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und potenziellen Kriegsverbrechen im besetzten Süden der Ukraine dokumentiert. „Wir sprechen von völliger Gesetzlosigkeit, einer Atmosphäre der Angst, die die russischen Streitkräfte in den besetzten Gebieten zu schaffen versuchen. Das ist eine Taktik, um sicherzustellen, dass die Menschen Angst haben, nicht aus der Reihe tanzen und sich ruhig verhalten.“
Terror als Taktik – es scheint erfolgreich zu sein. Aber wie ist das Leben heute – fast fünf Monate nach der Besatzung? Anruf in Cherson. Ich spreche mit einer Kollegin, einer Journalistin. Zu ihrem Schutz will sie anonym bleiben. Ich nenne sie Anna. Jetzt ist es still", sagt sie. "Man kann Bienen und Fliegen summen hören, die Vögel zwitschern. Es gibt kaum Verkehr, weil viele Menschen weggezogen sind – und weil das Benzin sehr teuer ist und die Menschen kaum noch Ersparnisse haben und viele ihre Arbeit verloren haben.“

Eine schleichende Annexion

Es ist eine schleichende Annexion. Das ukrainische Internet und Mobilfunknetz wird abgestellt. Wer telefonieren will, muss sich eine russische SIM-Karte kaufen. In den Schulen wird ein russischer Lehrplan eingeführt. Halten sich die Lehrkräfte nicht daran, werden sie gefeuert. Geldautomaten funktionieren nicht mehr. Der russische Rubel wird eingeführt. Die Preise für Fleisch, Käse und Milch explodieren. Ukrainische Waren werden durch russische ersetzt.
Jetzt kommen Medikamente von der Krim und werden auf Märkten aus dem Auto heraus verkauft. Aber die Menschen vertrauen den russischen Medikamenten nicht, weil die oft gefälscht sind.“
Auf der anderen Seite der Frontlinie hat sich deshalb ein risikoreicher Geschäftszweig entwickelt. Privatleute liefern regelmäßig Pakete in die besetzten Gebiete. Am Stadtrand von Saporischschja treffe ich Artem. Er hat aus der risikoreichen Überfahrt ein Geschäft gemacht. Etwa 600 Griwna – umgerechnet rund 15 Euro – kassiert er für ein Paket.
„Das erste Mal war beängstigend", sagt er. "Sieben Tage haben wir in der Grauzone zwischen beiden Armeen geschlafen." Kein Auto sei durchgelassen worden. "Da war ein Konvoi von 400 LKW und Autos. Alte Menschen, Kinder – die haben die Autos nicht durchgelassen! Die Russen machen das absichtlich, damit das ukrainische Militär nicht zurückschießt. Sie bauen einen menschlichen Schutzschild.“

Privatleute organisieren Hilfspakete gegen Geld

Drei kleine Lieferbusse besitzt die Gruppe um Artem mittlerweile. Wöchentlich, manchmal sogar öfter, überqueren sie die Front. Von dem Geld konnten sich Artem und ein Kumpel ein Häuschen mit Garten in Saporischschja kaufen. Denn viele Menschen sind auf ihre Dienstleistung angewiesen. Ständig klingelt das Telefon. „Wenn ich ein Paket hole, schreibe ich mir den Namen und die Telefonnummer von der Person auf, die es abholt. Ich telefoniere alle ab, sage: um 9 Uhr da und da. Das war es. Alle kommen zum Treffpunkt und ich verteile die Pakete.“
Artem öffnet seinen kleinen Lieferwagen. Die Menschen würden alles Mögliche auf die andere Seite schicken. Süßigkeiten, Hygieneprodukte, Nahrungsmittel, Medikamente. Sogar ein neues Fenster liegt auf der Ladefläche. Dass er aus der Not der Menschen ein Geschäft macht, werfe ihm keiner vor, sagt Artem. Im Gegenteil: Viele seien glücklich, ihren Angehörigen unter Besatzung ein bisschen helfen zu können.
Ich verlasse Artem. Immer noch warten wir auf Vitalijs Mutter. Noch immer gibt es keine Neuigkeiten. Ich fahre also weiter durch Saporischschja und treffe Natalia. Sie kommt aus Melitopol – etwa 100 Kilometer südlich von Saporischschja. Auch Melitopol wurde in den ersten Kriegstagen von der russischen Armee eingenommen.
„Man darf kein Ukrainisch sprechen, keine ukrainischen Symbole haben. Man darf überhaupt nichts Ukrainisches", sagt Natalia. "Das ist sehr gefährlich. Menschen werden entführt.“ Monatelang hatte sie darauf gehofft, dass die ukrainische Armee das Gebiet zurückerobern werde.
Nun aber steht ein neues Schuljahr bevor – und Natalia will nicht, dass ihre zwei Kinder in eine von Russland kontrollierte Schule gehen. Nur einen Koffer, ein paar Rucksäcke, den Hund und ihre zwei Kinder konnte sie mitnehmen. „Alles ist anders. Mein altes Leben gibt es nicht mehr. Meine Mutter ist dortgeblieben, sie weint und vermisst uns. Die Menschen dort haben kein Gas mehr und jetzt droht man ihnen, den Strom abzustellen. Im Moment sind wir froh, dass sie wenigstens noch Strom haben.“

Russen, Tschetschenen und Kasachen sind vor Ort

Natalias Mann und ein älterer Sohn sind nicht mitgekommen. Sie kämpfen in der ukrainischen Armee. Wo genau, weiß Natalia nicht. Damit die jüngeren Kinder eine Zukunft haben, hat sich Natalia entschieden, den anderen Teil der Familie zurückzulassen. Sie beginnt zu zittern. „Du fühlst dich fremd in deiner eigenen Stadt. Bei uns sind viele Tschetschenen und Kasachen. Meine Tochter ist 13 – und ich ziehe ihr im Sommer lange Hosen an, geschlossene T-Shirts. Seit Februar sind die Russen bei uns. Und es ist nicht mehr sicher, sich in offener Kleidung in der Stadt zu bewegen.“
Jetzt geht es für Natalia nach Österreich. Max – der mit seinem VW-Bulli eigentlich medizinische Güter in die Ukraine bringt – nimmt sie mit. Max spricht kaum ukrainisch oder russisch und Natalia kein Deutsch. Beide haben nur über eine Reihe von Kontakten zueinander gefunden. Helfernetzwerke, die sich mittlerweile über ganz Europa spannen, haben sie verbunden.
Max räumt die Lagefläche des Bullis, um Platz zu schaffen für eine Sitzreihe. Wenn er mit den Hilfsgütern komme, sei der Wagen jedes Mal überladen, sagt er. Die Sonne brennt auf die kleine Gruppe hinunter. Max wischt sich den Schweiß von der Stirn und zieht sein Handy aus der Tasche, zeigt Fotos von seiner Fracht. Dutzende Kartons, fein säuberlich gestapelt – und er hat recht: Wie die in den Bulli passen sollen, ist ein Rätsel.
„In dem Fall war das medizinischer Bedarf allgemein", sagt er. Von "Apotheker ohne Grenzen" in Österreich. "Ich habe drinnen gehabt: Ultraschall-Gerät, Röntgengerät, Inkubatoren – alles Mögliche. Krankenbetten. Eine ganze Liste.“
Jetzt ist der Bulli leer und Natalia und ihre Kinder klettern auf die eingebaute Rückbank. Normalerweise evakuiert Max keine Menschen – aber in diesem Fall macht er eine Ausnahme. Für ihn geht es nach Hause – aber für Natalia ist es eine Reise in eine ungewisse Zukunft.

Schikane an den russischen Checkpoints

Auch wir fahren weiter. Dann plötzlich ein Anruf – es ist Vitalijs Bruder. Er versucht noch immer, mit seiner Mutter und seiner Freundin aus den besetzten Gebieten zu fliehen. Nicht immer haben die drei Netz. „Sie stehen 2,5 Kilometer vor dem Eingang zum Filtrationszentrum in Wassyliwka", berichtet Vitalij. "Je nachdem, wie die Stimmung der Russen ist, werden sie stärker kontrolliert oder weitergeschickt. Ich hoffe, dass es bei meiner Mutter schneller geht. Sie ist schon über 60. Aber mein Bruder ist in wehrfähigem Alter.“
Wie viele Menschen sich aktuell auf der Flucht befinden, ist nicht bekannt. Aber viele Geflüchtete erzählen mir, dass gerade jetzt noch einmal viele versuchen, die Region zu verlassen. Grund: die geplante Gegenoffensive der Ukrainer. Aber auch in den besetzten Gebieten scheint der Widerstand zu wachsen.
Videos wie dieses kursieren im Internet: Ein vermummter Mann mit schwarzer Adidas-Kappe sitzt in einem schwach beleuchten Raum. Seine Stimme ist elektronisch verzerrt: „Die Partisanen von Cherson verfolgen euch, eure Bewegungen, eure Schlafräume, eure Waffenlager, eure Ausrüstung. Wir wissen, wie viel Angst ihr habt, wie ihr nicht wisst, wohin ihr gehen und wo ihr euch verstecken sollt. Wir wissen, wie ihr am Telefon mit euren Eltern, Ehefrauen und Kindern weint. Aber wir schlachten euch weiter ab – wie Schweine.“

Partisanenbewegung in Cherson

Die Drohung an die russischen Besatzer ist klar. Wer der Mann ist, nicht. Hinter ihm hängt eine dunkle Fahne, darauf das offizielle Logo des ukrainischen Widerstands: zwei rechte Winkel ineinander verkeilt. Auch eine Webseite gibt es – auf Ukrainisch und Englisch. Entworfen laut eigener Aussage von den Spezialkräften der ukrainischen Armee. Die haben laut Gesetz den Auftrag, bei der Widerstandsbewegung eine führende Rolle zu übernehmen.
Laut ukrainischen Medien soll auch in Cherson eine Partisanenbewegung aktiv sein. Noch einmal Anruf bei Anna, der Journalistin. „Wir haben mittlerweile gelernt zu unterscheiden, ob auf uns geschossen wird, ob von uns geschossen wird oder innerhalb der Stadt geschossen wird", sagt sie. "Und es wird innerhalb der Stadt geschossen. Wer schießt? Keine Ahnung. Später erfährt man, dass einer von den Kollaborateuren getötet oder in die Luft gejagt wurde. Es muss also Partisanen geben.“
Erst vor wenigen Tagen ist in Cherson ein Polizist von einer Bombe getötet worden, die offenbar unter dem Auto platziert wurde. Es ist der letzte Vorfall einer ganzen Reihe von Anschlägen. Auch aus anderen Städten berichten mir Geflüchtete von Widerstandsbewegungen und von russischen Soldaten, die zunehmend Angst haben.
Nach jedem Anschlag wird die Repression schlimmer, sagt Journalistin Anna. „Sie haben das ganze Viertel abgeriegelt, jedes Haus durchsucht, sind mit Minensuchnadeln umhergelaufen und haben den Boden untersucht, haben mit einer Drohne gefilmt, Hunde schnüffeln lassen und haben an einem Tag 27 junge Männer mitgenommen.“
Die ukrainischen Spezialkräfte schreiben aber auch kleinere Aktionen Partisanen zu. Das Aufhängen von ukrainischen Fahnen, Drohungen an Wände sprühen oder die Orte mit einem Buchstaben versehen, die die Besatzer nutzen wollen, um ein Referendum zur Abspaltung von Cherson durchzuführen.
In Kiew treffe ich Maxim, ein 20-jähriger Design-Student, der sich an solchen Aktionen selbst beteiligt hat. „Für mich gibt es zwei Arten von Partisanen. Die militärischen, die Russen töten, und die Informationspartisanen, die Fahnen herunterreißen und Drohungen schreiben", sagt er. "Ich kenne einige von den militanten und viele von den Informationspartisanen. Denen schließen sich sogar Kinder an. Das ist eine Art Lebensstil.“

Informationen – wichtige Währung im Krieg

Eine wichtige Währung im aktuellen Krieg sind Informationen, und die Ukraine macht es Zivilisten wie Maxim leicht, Informationen an ukrainische Streitkräfte weiterzugeben. Über Chatbots und eine App können Zivilisten Fotos hochladen und Koordinaten von russischer Militärtechnik durchgeben. So wurde auch Maxim zum Informanten. Auf einem Feld sah er eine Kolonne russischer Militärtechnik und gab eine Nachricht ab. „Dann merkte ich, dass ich gesehen werden kann. Ich hatte totale Angst. Und dann sah ich, wie auf die russische Technik geschossen wird. Ich habe vor Freude über das ganze Feld gebrüllt! Die Nachbarn haben mich angesehen wie einen Verrückten. Aber ich war wirklich glücklich. Ich hatte das Gefühl, dass ich unserer Armee ein wenig geholfen habe, die Russen zu vernichten.“
Ein junger Mann steht vor einem See.
Maxim hat Informationen an die ukrainischen Streitkräfte weitergegeben. Viele würden das tun, erzählt der junge Mann.© Rebecca Barth
So sehr sich Maxim wünscht, dass Cherson von den Russen befreit wird, so sehr fürchtet er auch die Gegenoffensive der Ukraine. Ein zweites Butscha sei zu erwarten, sagt er, wenn sich die Russen in die Enge gedrängt fühlen. Derzeit beschießt die ukrainische Armee bereits wichtige Brücken in der Region, um die Russen vom Nachschub abzuschneiden. Die Menschen sollen fliehen, fordert die ukrainische Regierung.

"Es ist eine solche Willkür"

In Saporischschja geht dann alles plötzlich ganz schnell. Vitalij Mutters soll die Checkpoints passiert haben. Wir springen ins Auto. Wieder einmal fahren wir Richtung Epizentrum – zu dem Baumarkt, auf dessen Parkplatz Hunderte Geflüchtete täglich ankommen. Dann erscheinen in der Dunkelheit endlich die Autos und Kleinbusse aus den besetzten Gebieten.
Es müssen Hunderte Menschen sein. Ukrainische Soldaten winken sie heran, die Autos reihen sich in acht Fahrspuren ein. Dann werden die Insassen registriert. Vitalij läuft durch die Reihen – dann entdeckt er seine Mutter. Es ist eine stumme Umarmung, eine lange Umarmung. Sie zündet sich eine Zigarette an. „Es ist eine solche Willkür. Ich bin ja schon alt, ich habe vieles gesehen. Aber im 21. Jahrhundert: solche Erniedrigungen.“
Vitalijs Bruder und seine Freundin klettern aus dem Bus, den Kater haben die drei noch mitgenommen und ein paar Taschen. Zwei Tage standen sie an den Checkpoints in Wassyliwka – und waren damit verhältnismäßig schnell.
Wir schaffen Platz im Wagen und bringen sie in ein Hotel. Unterwegs sprudelt es aus ihnen heraus: „Ein Bekannter von mir ist erst vor Kurzem aus der Haft entlassen worden. Er wurde schon im März verhaftet. Wird dachten, er sei tot. Ein zweiter Bekannter wurde in einem Auto mit seiner Familie erschossen. Er hat Menschen evakuiert. Auch meine Bekannten vermissen Verwandte. Ständig verschwinden Menschen.“
Menschenrechtler befürchten, in den besetzten Gebieten sei das Verschwindenlassen von Menschen weit verbreitet. Aktuell gebe es nichts, was man dagegen tun könne. Auch für Angehörige gebe es keine Möglichkeit, verschwundene Verwandte zu finden. Die Menschen, die ich in den vergangenen Wochen in der Ukraine getroffen habe, berichten von ständiger Angst und bitten mich, ihre Erlebnisse zu erzählen – damit die Welt sie nicht vergisst.

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