Krieg gegen die Ukraine

Die Fehler der deutschen Ostpolitik

29:39 Minuten
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel und Russlands Präsident Wladimir Putin beim Besuch im Bundeskanzleramt in Berlin am 1.6.2012.
Die zu große Nähe zu Russland, wirft der Buchautor Thomas Urban der deutschen Politik in den vergangenen Jahren vor. Das gelte auch für die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel, hier mit Russlands Präsident Wladimir Putin im Juni 2012 in Berlin. © picture alliance / Sven Simon / Annegret Hilse
Thomas Urban im Gespräch mit Susanne Führer · 23.07.2022
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Der Buchautor Thomas Urban wirft der deutschen Politik schwere Versäumnisse in ihrer Ostpolitik der vergangenen Jahrzehnte vor. Sie habe den osteuropäischen Nachbarn nicht zugehört und Putin falsch eingeschätzt. Das Image Deutschlands sei im Keller.
Seit über 30 Jahren berichtete der Journalist Thomas Urban für deutsche Medien aus Osteuropa, aus Warschau, Kiew und Moskau. Im vergangenen Jahr schrieb er, auch aus einer Stimmung des Frusts heraus, ein Buch über die deutsche Ostpolitik und deren Versäumnisse seit den 1970er Jahren. „Weil ich das Gefühl hatte, dass die politischen Entscheidungsträger in Berlin nicht sehen, was sich alles in Osteuropa aufbaut.“
Schon zu Beginn, meint Urban, seien in der westdeutschen Entspannungspolitik Fehler gemacht worden – trotz aller guten Absichten. „Natürlich war der Ansatz der Ostpolitik wichtig und richtig. Man musste miteinander reden. Es steht außer Zweifel, dass gerade für die Bevölkerung der DDR die Ostpolitik sehr viele positive Effekte hatte.“

Deutschland finanzierte russische Aufrüstung

Der strategische Denkfehler sei gewesen, den politischen Dialog durch Handel absichern zu wollen, so Urban. In diesem Fall durch das Erdgasröhrengeschäft mit der Sowjetunion, realisiert durch die SPD-FDP-Koalition in den 1970er-Jahren.
„Man hat dabei nicht beachtet, dass die Sowjets die riesigen Deviseneinnahmen nutzen, um ihre Armee hochzurüsten. Das wurde in Bonn völlig ignoriert. Das gleiche Szenario hat sich nun unter Putin wiederholt.“

Kein Kontakt zu Bürgerrechtlern

Spätestens 1981, als in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde, hätte man die Geschäfte zurückfahren müssen, so der Journalist. Außerdem: Die Sozialdemokraten hätten keinen Kontakt zu den Regimegegnern in den osteuropäischen Staaten gesucht, die Solidarność habe ihr als „Störfaktor“ gegolten.
Der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa 1989
Die mangelnde Unterstützung der deutschen Sozialdemokraten für die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność rächt sich bis heute. © picture alliance / AP / Czarek Sokolowski
Ein Fehler mit Folgen bis heute: „Es gab immer ganz starke Spannungen zwischen den SPD-Spitzenpolitikern und polnischen Politikern jeglicher Couleur, auch zwischen den polnischen und den deutschen Sozialdemokraten im Übrigen, gerade auch wegen des Verhältnisses zu Russland.“

Idealisierung Russlands

Die Warnungen aus den osteuropäischen Staaten vor Russland, die Jahrzehnte unter der Herrschaft der Sowjetunion gestanden hatten, seien als "russophob" abgetan worden, kritisiert der Autor. Die berühmte Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin 2001 im Deutschen Bundestag habe bei allen, ihn eingeschlossen, die Hoffnung genährt, in Russland ginge es nun in eine andere Richtung.
Doch anschließend habe man der Entwicklung in der russischen Innenpolitik nicht ausreichend Beachtung geschenkt. „Grosny wurde zum zweiten Mal zerstört, es gab keine politische Opposition", so Urban. "Die Presse wurde gleichgeschaltet, Dissidenten gerieten unter Druck, und es gab erste politische Morde, deren Spuren in die oberste politische Führung führten.“

Fragezeichen hinter Merkels Gesamtwerk

Stattdessen wurde 2015, als Bundeskanzlerin Angela Merkel regierte, die Gaspipeline Nordstream 2 vereinbart, ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass. Und das, obwohl Merkel die Annexion der Krim wie den Einmarsch russischer Truppen in den Donbass als verbrecherisch bezeichnet hatte. „Ich verstehe es nicht", sagt Urban. "Es ist in meinen Augen ein fundamentaler Fehler, der ein großes Fragezeichen hinter ihr ganzes Gesamtwerk setzt.“
Jetzt gebe es Bewegung, glaubt der Journalist. In der SPD würden sich nun die "Realisten" durchsetzen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sei von seinem früheren naiven Kurs als Außenminister abgewichen. Man sehe das auch an der Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Scholz, wie an Aussprüchen der beiden SPD-Vorsitzenden, die vor einem halben Jahr noch undenkbar gewesen seien.

"Die Deutschen gelten als Großsprecher"

Die Frage sei, inwieweit sich die Reden in praktische Politik umsetzten. Angesprochen auf Deutschlands zögerliche Lieferung schwerer Waffen für die Ukraine sagt Urban: „Das Image Deutschlands ist im Moment wirklich im Keller bei allen östlichen Nachbarn, die Deutschen gelten jetzt als Großsprecher."
Die Zeitenwende-Rede Ende Februar habe natürlich auch in Polen und in den baltischen Staaten Schlagzeilen gemacht. "Und dann kommt nichts oder zu wenig. Das wird viele Jahre der politischen Arbeit, des politischen Dialogs kosten, hier verlorenes Terrain wieder zurückzugewinnen.“

Thomas Urban: „Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik“, Edition Foto Tapeta 2022, 191 Seiten, 15 Euro.

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