Kriegstagebücher aus der Ukraine

Wenn der Alltag aus den Fugen gerät

56:35 Minuten
Tägliches Leben in Kiew, ein Mann liest ein Buch während er auf den Resten einer russischen Rakete sitzt, die auf dem Mykhailivska-Platz im Stadtzentrum von Kiew ausgestellt ist.
Ein Alltag im Ausnahmezustand: Viele Ukrainer dokumentieren das in Kriegstagebüchern. © picture alliance / NurPhoto/ Maxym Marusenko
Moderation: Dorothea Westphal · 31.07.2022
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Tagebücher, die vom veränderten Alltag in ukrainischen Kriegsgebieten erzählen, erscheinen seit Kriegsbeginn in Zeitungen, bei Facebook, als Bücher und in anderen Medien. Sie dokumentieren einen Ausnahmezustand und erneuern das Genre Kriegsliteratur.
Ich weiß noch nicht, was sich daraus entwickeln wird, sagt Sabine Kalff von der Humboldt Universität Berlin, die zu Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg arbeitet: "Beim Zweiten Weltkrieg ist es so, dass die Tagebücher nach dem Krieg erschienen sind, manchmal mit großem zeitlichem Abstand. Es gibt bei diesen Tagebüchern so eine dokumentarische Ebene, die für Historiker interessant ist und außerdem eine literarische Ebene. Und es gibt etliche Tagebücher, die bewegen sich dazwischen."
Man könne Kriegstagebücher als Dokumente einer Zeit lesen oder als gelungenen literarischen Text. Gerade das mache sie für die Literaturwissenschaft interessant. Der Unterschied zu früher sei, dass die Digitalisierung einiges verändert habe. Inzwischen sei es möglich, die Texte ohne Zeitverzögerung an die Öffentlichkeit zu bringen.

Die direkten Stimmen der Menschen

"Eines der Merkmale des Krieges in der Ukraine ist, dass wir alles online beobachten können, dass wir keinen Abstand haben", führt die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja aus. Das sei eine neue Situation. Katja Petrowskaja hat die Tagebücher und Texte, die zurzeit über den Krieg in der Ukraine entstehen, einmal als „die literarische Form dieser Zeit" bezeichnet. Was zähle, seien die direkten Stimmen der Menschen, Zeugnisse jeglicher Art. Diese Texte könne man als Kriegstagebücher bezeichnen, weil sie vom Krieg handeln und es um Gefühle der Menschen gehe.

Texte, um zu vermitteln

Der Musiker, Autor und DJ Yuriy Gurzhy schreibt seit Kriegsausbruch ein Tagebuch für die Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“. Er wurde in Charkiw geboren, lebt seit 1995 in Berlin und verfolgt von hier aus den Krieg in seinem Heimatland. "Es fällt mir schwer, diese Texte als Kriegstagebuch zu bezeichnen, sagt er, weil ich hier in Deutschland in Sicherheit lebe." Aber es sei tatsächlich ein Tagebuch. Bereits in den ersten Kriegstagen habe er so viele Geschichten von Menschen aus der Ukraine gehört, die er gerne mit anderen teilen wollte.
Er schreibe, um einen Kontext herzustellen, der hier im deutschsprachigen Raum fehle, denn, so Gurzhy: "Über die digitalen Bilder vermittelt sich vieles nicht." Er hofft, über die Geschichten, die er aus dem Krieg erzählt, mehr Empathie bei den Lesenden zu erzielen, aber auch, über sein Heimatland zu informieren: "Bis vor kurzen musste ich das Wort Charkiw den Menschen buchstabieren. Inzwischen kennt es jeder. Viele Menschen hier haben die Ukraine erst seit Februar entdeckt." Vorher wusste man hierzulande wenig über dieses Land – sowohl kulturell, historisch als auch politisch.
Und so beginnt das ukrainische Kriegstagebuch, das Yuriy Gurzhy für den „Tagesspiegel“ schreibt und das immer dienstags und freitags sowie online veröffentlicht wird.

"26. Februar. Ich denke: Erstaunlich, was man alles in nur einem Tag auf die Bühne stellen kann, als ich nach einem Platz im großen Saal vom Gorki-Theater suche. Es ist voll. Gleich fängt die Lesung an, die gestern weder im Programm stand noch geplant war. Es wird aus den Werken ukrainischer belarussischer und russischer Autoren vorgelesen. Man sammelt Spenden für die Ukraine, die sich seit drei Tagen tapfer gegen die russische Invasion verteidigt. Ich werde auch lesen, und zwar aus dem letzten Roman von Zhadan. Ich höre zu, muss aber feststellen, dass ich mit diesen Texten gerade nichts anfangen kann. Zwar vermag ich jedes Wort zu verstehen, aber ich spüre nichts. Ich kann mich schlecht konzentrieren. Am liebsten würde ich weiter lesen, was meine Freunde gerade auf Social Media posten. Die Texte, die wir von der Bühne hören, mögen stark zeitlos sein. Aber ich will, ich muss wissen, was passiert, in dieser Minute, in dieser Stunde. In Kiew habe ich im Herbst drei unvergessliche Konzerte gespielt. Charkiw, meine Heimatstadt. Hier bin ich geboren und aufgewachsen. Hier leben meine Familie und ganz viele Freunde von mir. Auch Zhadan, mit dem ich ein Album aufgenommen habe. Letztes Jahr. Während wir am Gorki-Theater seine Gedichte und Prosa lesen, ist er in Charkiw. Charkiw wird beschossen: Jetzt. Das erzähle ich den Zuschauern. Dabei habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass ich gleich heule. Es ist mir ein bisschen peinlich, aber dann doch nicht."

Texte als ein Akt der Verteidigung

Das Leben von Katja Petrowskaja und Yuriy Gurzhy hat sich seit Kriegsbeginn sehr verändert. Da sei die Sorge um Freunde und Verwandte, das Sammeln von Spenden, die Unterstützung, wo es nur gehe. Als DJ könne er zurzeit nicht arbeiten, sagt Gurzhy und an Konzerten nur dann teilnehmen, wenn es auch um ukrainische Musik gehe. Für längere, literarische Texte fehle die Zeit und Konzentration, ergänzt Petrowskaja. Obwohl der Krieg jetzt schon fünf Monate dauere, habe sich daran nicht viel geändert. Vielleicht sei es auch ein Akt der Verteidigung, "dass wir weiter Kunst machen und unsere Texte lesen können."
"Wichtig für Kriegstagebücher ist die Erfahrung, dass in das normale zivile Leben der Krieg einbricht", erläutert Kalff: "Es ist wie eine zweite Sphäre, die sich da hineinschiebt. Soldaten an der Front machen andere Erfahrungen, sie bewegen sich in einer militärischen Sphäre." Für viele Zivilisten gehe das Leben normal weiter, soweit dies möglich sei. Alltagsverrichtungen könnten auch zu einer Art Stütze im Krieg werden: "Also, dass man diese Normalität auch eben behalten möchte, je stärker sie bedroht ist."

Direkt die Ereignisse begleiten

Sabine Kalff bemerkt, dass die ukrainischen Kriegstagbücher viele Unterschiede zu den traditionellen Tagebüchern aufweisen und ist sich nicht ganz sicher, wie sie sie einordnen soll. Vielleicht habe sich auch dadurch etwas geändert, weil es mit den Kommunikationsformen und der Digitalisierung möglich sei, die Texte ohne Zeitverzögerung an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie weist darauf hin, dass es eine Besonderheit sei, nicht an dem Ort zu sein, über den man schreibe, wie das bei Yuriy Gurzhy der Fall sei. Ungewöhnlich sei auch das fortlaufende Veröffentlichen. "Üblicherweise werden Tagebücher über einen längeren Zeitraum geschrieben, überarbeitet und dann veröffentlicht", sagt sie: "Da gibt es immer eine Zeitverzögerung. Diese neuen Texte aber begleiten direkt die Ereignisse."
Petrowskaja ergänzt: "Ich glaube, bei den Texten ist es für viele wichtig, nicht nur die eigene Wahrnehmung darzustellen, sondern auch Stimmen von anderen dabei zu haben." In fast allen Texten zum Krieg in der Ukraine gehe es um andere Menschen. Petrowskaja erzählt: "Ich erinnere mich, dass ich in den ersten Tagen immer meine Freunde angerufen habe, weil sie irgendwie mehr Liebe und Sicherheit ausgestrahlt haben als ich. Und ich habe immer Trost bei ihnen gesucht. In einigen Kreisen erlebt man gerade sehr viel Zusammenhalt, weil die Leute sonst nicht überleben könnten. Es geht um den gemeinsamen Widerstand."

Jedes Mal ein Schock

„Noch vor zwei Wochen war Charkiw ein fein gearbeitetes Juwel. Jetzt ist die Stadt ein Grauen“, heißt es in dem Kriegstagebuch des ukrainischen Autors Sergej Gerassimow, das unlängst unter dem Titel „Feuerpanorama“ erschienen ist. Auch Gurzhy erzählt in seinem Tagebuch von der Zerstörung seiner Heimatstadt. Kürzlich habe er mit einem Freund telefoniert, der gerade in Charkiw angekommen und in seinem Hotel war. Es fielen Bomben, so dass er schließlich in den Schutzbunker gehen musste und die Verbindung abbrach. Und er beschreibt die Diskrepanz, die es für ihn bedeutete, an diesem Sommerabend in Berlin Mitte gewesen zu sein. Aus dieser Diskrepanz heraus gestalte er seine Einträge: "Man sitzt im Zug oder zu Hause oder befindet sich auf einer Berliner Straße. Wenn dann die Nachrichten aus der Ukraine kommen, ist das jedes Mal ein Schock."
Katja Petrowskaja hat, statt Tagebuch zu schreiben, Kolumnen verfasst. Sie habe versucht, immer einen Fokus zu behalten: „Wobei, mit diesem Krieg, in dem wir uns jetzt befinden, in diesem Sinne ist es vielleicht doch ein Tagebuch, weil es darin um Gefühle geht."  
Ihre Kolumne „Sternenregen“ bezieht sich auf ein Video auf Instagram:

"Es war ein trüber Tag, als ich dieses Foto auf Instagram fand. Ich sah es mehrmals ohne Sound, verzaubert. Die Sterne fielen vom dunklen Himmel, verschwanden auf der Erde und fingen wieder an, vom Himmel zu fallen. Diese Wiederholung kränkte mich, als hätte ich sofort gespürt, was ich sehe und dass ich nichts dagegen tun kann. Ich habe das Video mehrmals im Loop gesehen, ohne das zu bemerken. Aber ich ahnte, dass diese Wiederholung ebenso fatal und schicksalhaft sei wie die fallenden Sterne. Ich schaltete den Ton ein und hörte die Stimme eines ukrainischen Soldaten, der das Video gefilmt hat. Anfangs war er über dieses zauberhafte Feuerwerk erstaunt, dann schimpfte er ungezügelt. Die nächsten Sekunden atmete er schwer. Ich wusste nicht, weshalb und ahnte das Schlimmste. Ich schaute mir das Video noch einmal an, ohne seine Stimme und sah die irritierende Schönheit."
(aus "Sternenregen" von Katja Petroswkaja)

"Diese Geschichten sind Momentaufnahmen", sagt Yuriy Gurzhy. Sie seien wie Polaroids: "Vielleicht nicht wie professionelle Fotografien, sie zeigen etwas anderes. Die Texte werden auch in vielen Jahren noch etwas wert sein."
(ukr/dw)

Literaturhinweise:

Das Kriegstagebuch von Yurij Gurzhy erscheint immer dienstags und freitags im Berliner "Tagesspiegel" und online. Weitere Kriegstagebücher findet man auf der Seite "Records of War".

"Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch" von Sergej Gerassimow, übersetzt von Andreas Breitenstein, dtv München 2022, 256 Seiten, 22,00 Euro

"Anfang des Krieges" von Yevgenia Belorusets erscheint im September im Verlag Matthes & Seitz

"Das Foto schaute mich an" von Katja Petrowskaja, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 256 Seiten, 25 Euro

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