Tödliche Ignoranz

Von Marita Vollborn und Vlad Georgescu · 10.07.2012
Selbstmord ist noch immer ein Tabuthema in der Gesellschaft, gerade der von Kindern und Jugendlichen - und ist doch ein äußerst ernst zu nehmendes Problem. Gesellschaft und Politik sehen lieber weg, statt zu helfen, sagen Vlad Georgescu und Marita Vollborn.
Das Statistische Bundesamt beziffert die Zahl der Kinder, die pro Jahr an den Folgen von Unfällen oder Gewalt sterben, auf 1000. Das sind drei Kinder und Jugendliche pro Tag. Was diese nüchterne Statistik allerdings verbirgt: Viele dieser scheinbaren Unfälle sind Selbstmorde. Die tatsächliche Selbstmordrate junger Menschen aber ist unbekannt. Ein Kind, das Benzin schluckt oder eine 14-Jährige, die sich vor einen LKW wirft - wer weiß denn schon, ob es Unfall oder Absicht war? Eine Verpflichtung zur Meldung von Suizidversuchen gibt es in Deutschland ohnehin seit 1963 nicht mehr.

In der Öffentlichkeit findet das Thema Suizid bei Kindern kaum Gehör. Einerseits aus durchaus gutem Grund: Die meisten Medien berichten zurückhaltend oder gar nicht über solche Taten, um keine falschen Vorbilder zu präsentieren. Andererseits zieht sich auch eine Ächtung sämtlicher Selbstmörder wie ein roter Faden durch die Geschichte. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Selbsttötung entkriminalisiert. Diese über Jahrhunderte gewachsenen Fehlurteile bestimmen auch heute noch den Umgang mit dem Thema.

Kaum jemand weiß, dass es in Deutschland jährlich mehr Tote durch Selbstmord als durch Verkehrsunfälle gibt. Besonders schmerzlich dabei ist der Anteil an Kindern und Jugendlichen. Statistisch erfasst sind etwa 220 Heranwachsende pro Jahr, die keinen anderen Ausweg sehen als den Tod. Tag für Tag versuchen rund 40 junge Leute, sich das Leben zu nehmen, hat die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Wismar Business School errechnet. Auf jeden Selbstmord kommen 20 bis 30 fehlgeschlagene Versuche.

"Wer vorher sagt, dass er sich umbringen will, wird es nicht tun", so lautet ein gängiges Vorurteil. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Fast zwei Drittel aller Selbstmorde werden zuvor angekündigt. Jeder weiß um das Gefühlschaos von Heranwachsenden, aber die meisten schätzen es falsch ein. Sich unverstanden, abgewiesen, einsam fühlen - wer tut das nicht dann und wann? Soziale Kälte, Missbrauch, Gewalt in Familien sind die wichtigsten Faktoren, warum sich ein Heranwachsender nicht für das Leben, sondern für den Tod entscheidet.

Avancieren Deutschlands verlorene Kinder damit zu stummen Anklägern einer erodierenden Gesellschaft? Ist der Freitod der Kinder die logische Folge des unerbittlichen Konkurrenzkampfes um Besitz, Erfolg und Selbstdarstellung der Erwachsenen?

In Extremsituationen finden viele Kinder niemanden, der sie auffängt. Natürlich gibt es kostenfreie Dienste wie Telefonseelsorge oder Krisennotdienst für Eltern und Kinder. Doch an Schulen sind Lehrer kaum in der Lage, die ersten Alarmsignale richtig zu deuten - und Eltern sehen zu oft zu lange weg.

Tatsache ist, dass psychische Erkrankungen wie Depressionen, Hyperaktivität und Ängste zunehmen. Beinahe jedes vierte Kind unter 19 Jahren leidet darunter, konstatierte kürzlich die Techniker Krankenkasse.

Bedroht ist in erster Linie die ambulante Therapie. Durch eine geplante Gesetzesänderung werden wohl 6000 Praxen schließen. Und bei den stationären Psychiatrien? Dort verschärft die Politik ein Problem. Mit dem 18. Geburtstag landen selbstmordgefährdete Jugendliche in der Erwachsenenpsychiatrie. Und da können ihnen die vertrauten Psychologen aus den Jahren zuvor nicht mehr helfen.

Jeder junge Mensch, der sein Leben beendet, ist letztlich auch das Opfer einer verfehlten Gesundheitspolitik.


Marita Vollborn, 1965 geboren, studierte Agronomie an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Journalistik an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Sie ist freie Wissenschafts- und Wirtschaftsjournalistin und leitet seit 2001 zusammen mit Vlad Georgescu das international erscheinende Biotech-Webzine LifeGen.de. Zusammen mit Vlad Georgescu schrieb sie "Die Joghurt-Lüge. Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie" und "Kein Winter, nirgends. Wie der Klimawandel Deutschland verändert".

Vlad Georgescu, 1966 geboren, studierte Chemie an der TU Hannover und Journalistik an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Er ist freier Wissenschafts- und Wirtschaftsjournalist und leitet zusammen mit Marita Vollborn seit 2001 das international erscheinende Biotech-Webzine LifeGen.de. Er ist Mitglied der Wissenschaftspressekonferenz (WPK). Gemeinsam mit Marita Vollborn schrieb er "Die Joghurt-Lüge. Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie" und "Kein Winter, nirgends. Wie der Klimawandel Deutschland verändert".


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