Tagebuch eines Selbstmords

15.02.2011
Die italienische Feministin Roberta Tatafiore hat sich das Leben genommen. In den drei Monaten zuvor hat sie ihre Gedanken und Gefühle niedergeschrieben - die sich nun in einem Buch nachlesen lassen.
Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben gestehen wir jedem zu – das Recht auf einen selbstbestimmten Tod noch lange nicht. Die oft Debatte um Sterbehilfe etwa offenbart, wie eng die Grenzen des allgemein Tolerierten gesteckt sind. Das sah auch die über Italien hinaus bekannte Feministin Roberta Tatafiore so – und entschloss sich, ohne erkennbares, ohne scheinbar gewichtiges Motiv, ihr Leben zu beenden. Drei Monate Zeit gab sie sich für die Vorbereitungen, während derer sie notieren wollte, was sich angesichts ihrer Entscheidung in ihr abspielen würde.

Gewiss war es auch der Entschluss einer gequälten Seele. Roberta Tatafiores Freundin Stefanie Georgi schreibt: "Das Karma ihres Lebens, das gezeichnet war von emotionalem Verlust und Momenten wüster Einsamkeit, aber auch von der Fähigkeit, ein überaus weites, vielfältiges, überraschendes Netz und Erbe von Beziehungen zu schaffen …"

Tatafiore war einer der klarsten und hellsten Köpfe der italienischen Linken. Sie ließ sich ihr eigenes, oft eigensinniges Urteil von niemandem abhandeln, auch als sie zuletzt für eine eher rechtslastige Zeitschrift arbeitete, die ihr allerdings völlige Freiheit ließ. Von der Linken war sie lange schon enttäuscht, von ihren faulen Kompromissen, ihrer Feigheit, ihrem Opportunismus, ihrer Korruption – ein bloßes Spiegelbild ihrer angeblichen Gegner.

Was also treibt eine bekannte, engagierte und weithin erfolgreiche Frau zu einer solchen Entscheidung? Oder muss man umgekehrt fragen: Warum erscheint uns die Entscheidung zum Freitod erklärungsbedürftig, nicht aber die alltägliche Entscheidung weiterzuleben? So gestellt, wird es eine Frage der Gewichtung: Was hat das Leben zu bieten – und ist es dann all die Opfer wert? Diesen Blick verbietet unsere Kultur: Leben gilt als Wert an sich. Bestimmte kulturelle Normen scheinen nie legitimationspflichtig, nur die Abweichung muss gerechtfertigt werden. In den Augen Tatafiores eine Absurdität.

Es gab Katalysatoren für ihre Entscheidung: Depressionen, körperlichen Verfall (aber keine unheilbare Krankheit), die politische Stagnation samt schrumpfender politischer Gestaltungsmöglichkeiten – den Mangel also an großen Herausforderungen, wie sie für Tatafiore noch der frühe Feminismus bereithielt, als um Themen wie Abtreibung, Sex-Industrie oder Scheidungsgesetze gestritten wurde. Die Autorin lässt ihre Motive Revue passieren, reflektiert sie, spielt sie durch und spekuliert, was noch eine Rolle spielen könnte. Politik, Freunde, die geliebte Katze? Man könnte das Buch als eine Art Selbstfindung begreifen, unter dem selbstgesetzten Druck der existentialistischen Grenzsituation.

Am Ende war es wohl die Trauer über eine scheinbar betonierte Zeit: der monomane, als quälerisch empfundene Neoliberalismus, die gefestigten und vom Westen unterstützten Diktaturen allerorten, die verhärteten Fronten, die überall spürbare resignative Anpassung. Kein Ausweg, nirgends, im Wortsinn nirgends mehr ein Spiel-Raum…

Besprochen von Eike Gebhardt

Roberta Tatafiore: Einen Tod entwerfen. Tagebuch eines Selbstmords
Aus dem Italienischen von Andreas Rostek
Edition fototapeta, Berlin 2010
160 Seite, 12,80 Euro