Theorie der Geldentstehung

Warum man Geld einfach drucken kann

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Dollarnoten in einer Druckwalze.
Einfach mehr Geld drucken geht nicht? Und ob, sagt der Soziologe Aaron Sahr: Staaten könnten letztlich so viel Geld schaffen, wie sie brauchen. © Imago / Panthermedia
Aaron Sahr im Gespräch mit Christian Möller · 27.06.2021
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Was man ausgibt, muss man vorher erst einnehmen, so sagt man. Aber stimmt das auch für Staaten? Keineswegs, sagt der Geldforscher Aaron Sahr. Er erklärt, warum Geld erst durch Schulden entsteht – und die schwarze Null in die Irre führt.
Fast eine halbe Billion Euro – so viel Geld wird der deutsche Staat voraussichtlich im Zuge der Corona-Pandemie mehr ausgegeben haben. Eine schwindelerregende Summe, finanziert über Staatsschulden. Umso lauter werden jetzt die Rufe nach einer baldigen Rückkehr zur sogenannten "schwarzen Null".
Gleichzeitig aber braucht es dringend Geld für andere wichtige Aufgaben: Klimaschutz, Bildung, Verkehrssystem, Digitalisierung – wie soll man das alles finanzieren? Schließlich, so hört man oft, kann man ja nicht einfach Geld drucken. Oder etwa doch?

Geldschöpfung aus dem Nichts

Im Prinzip schon, sagt der Soziologe und Geldforscher Aaron Sahr: "Schon sehr lange funktioniert die Herstellung von Geld nach Bedarf." Die Frage sei nur: Nach wessen Bedarf richtet sich die Geldschöpfung – und was ist ein guter oder sinnvoller Bedarf? "Und das ist etwas, worüber wir uns meinem Eindruck nach lange nicht gesellschaftlich verständigt haben."
Im Alltag herrsche vielmehr das Verständnis vor, Geld müsse erst erwirtschaftet werden: "Man muss etwas herstellen, es verkaufen, sich bemühen." Schon Immanuel Kant war der Ansicht: Geld sei eigentlich ein Maßstab für Fleiß.
Tatsächlich aber werde Geld sozusagen "aus dem Nichts" geschaffen, erklärt Sahr. Als Beispiel dafür nennt er den privaten Hauskauf per Kredit: "In dem Moment, wo die Bank diesen Kredit bewilligt, entsteht das neue Geld auf dem Konto. Das war vorher nicht da." Denn das Zahlungsversprechen der Kundin schreibt sich die Bank als Guthaben in ihre Bilanz.
Genauso funktioniere es auch bei den Zentralbanken, nur eben mit Krediten an den Staat, nicht an Privatpersonen: "Die Zentralbank nimmt ein neues Staatsschuldpapier als Vermögen auf und erzeugt dafür das neue Geld, um das zu bezahlen. Und das ist auch bei den sogenannten Corona-Maßnahmen passiert oder auch im großen Stil nach der Finanzkrise."

Staatsschulden als Ressource

Geld entstehe also erst durch Verschuldung. Vor diesem Hintergrund müssten Staatsschulden als "Ressource" begriffen werden, meint Sahr: "In gewisser Weise sind Staatsschulden die Grundlage unserer Geldversorgung." Und mehr noch: Erst durch Verschuldung komme die Wirtschaft überhaupt in Gang. Diese Erkenntnis stehe allerdings im deutlichen Kontrast dazu, "wie wir politisch über Staatsschulden sprechen", sagt der Geldforscher.
"Nämlich so, als wäre es am besten, wenn ein Staat sie vermeidet, möglichst den ausgeglichenen Haushalt anstrebt, bestenfalls sogar mehr Einnahmen macht, als er ausgibt – wie das die berühmte schwarze Null vorsieht. Das Problem ist nur: Es können nicht alle mehr Einnahmen haben, als sie ausgeben. Manche müssen mehr ausgeben, als sie einnehmen, damit andere mehr einnehmen können, als sie ausgeben." Und wenn nicht der Staat diese notwendigen Schulden mache, dann treffe es Privatleute.
Eine Bewegung, die mit diesem aus ihrer Sicht falschen Sparzwang aufräumen will, ist die sogenannte "Modern Monetary Theory" – zu Deutsch etwa: Moderne Geldtheorie – , die vor allem in den USA seit einigen Jahren diskutiert wird. Inzwischen erregt die MMT aber auch in Deutschland Aufsehen.
Die Grundüberlegung, so fasst Sahr zusammen, sei "dass der Staat eigentlich jede Ausgabe tätigen kann, die er tätigen will. Als ein demokratischer Souverän ist er nicht davon abhängig, von außen finanziert zu werden", also etwa von Steuereinnahmen – eben weil Geld auf der makroökonomischen Ebene nicht durch Einnahmen, sondern durch Verschuldung entstehe.

Zahlungsfähigkeit ist Verhandlungssache

Auch wenn Sahr vor einer allzu großen "Machbarkeitsillusion" im Zusammenhang mit der MMT warnt, teilt er doch ihre grundsätzliche Feststellung, "dass die Frage von Zahlungsfähigkeit oder Zahlungsunfähigkeit eines politischen Gemeinwesens letztendlich Verhandlungssache ist". Das Argument, "das lässt sich nicht finanzieren", könne man vor diesem Hintergrund nicht mehr gelten lassen.
Die Frage nach der Umsetzbarkeit politischer Programme müsse sich vielmehr auf die "Verfügbarkeit realer Ressourcen" richten. Als Beispiel nennt er den Ausbau des Pflegesektors: "Haben wir überhaupt genug ausgebildete Pflegekräfte?" Das nötige Geld jedenfalls könne der Staat einfach schaffen.
Plausibel wird das, wenn man sich vor Augen führt, "dass eben auch private Banken jahrzehntelang nach freien Stücken Geld schaffen konnten" – und zwar letztlich unabhängig von der Kontrolle durch die Zentralbanken: "Letztendlich geben die privaten Banken den Takt vor – sie schöpfen so viel Geld, wie lukrativ erscheint, also nach Bedarf der privaten Wirtschaft. Und die Zentralbanken liefern das Zentralbankgeld nach Bedarf nach. Das heißt, die Geldordnung ist im Prinzip dem Profitkalkül unterworfen."
Sahr nennt das "Keystroke-Kapitalismus", weil private Banken quasi ‚per Knopfdruck‘ Geld schöpfen. Das wiederum beeinträchtige nicht nur die soziale Gleichheit, sondern auch die finanzielle Stabilität des Geldsystems. Die MMT beharre dagegen auf dem Vorrang des "öffentlichen Bedarfs" bei der Geldschöpfung.

Geldschöpfung muss in die politische Debatte

Die Gründe für die Schieflage des Geldsystems und die anhaltende Verbreitung überkommener Geldvorstellungen sieht Sahr in einer Gemengelage aus "Unkenntnis, Irrtümern und Interessen". So profitierten etwa von der Freiheit privater Banken, Geld zu schöpfen, "diejenigen, die mit Aktien handeln oder mit Immobilien spekulieren wollen".
Für die Zukunft wünscht sich Sahr zunächst ein möglichst "breites, öffentliches Gespräch darüber, was Geld eigentlich ist und woher es kommt". Denn bisher sei die Frage der Geldschöpfung in der Öffentlichkeit kaum vorhanden.
"Wir haben ständig über Verteilung gesprochen: Wer hat wie viel Geld? Wem darf es weggenommen werden? Wohin soll es dann verschoben werden? Aber die Frage, wie es entstehen sollte und welche Möglichkeiten eigentlich in Geldschöpfung stecken, das gehört einfach nicht zum Inventar unseres politischen Diskurses. Und das müssen wir erst mal erreichen", fordert der Soziologe.
(ch)

Aaron Sahr: "Keystroke-Kapitalismus. Ungleichheit auf Knopfdruck."
Hamburger Edition, 2017
176 Seiten, 12 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Kommentar zur Meinungsfreiheit: Meinungen muss man erst mal bilden
Durch Sprachregelungen und "Cancel Culture" sei die Meinungsfreiheit in Gefahr, heißt es. Daniel Loick findet, es wird zu viel über die Freiheit von Meinungen diskutiert – und zu wenig darüber, wie diese überhaupt zustande gekommen.

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