Angst und Depression

Wie lässt sich Suizid bei jungen Menschen verhindern?

29:07 Minuten
Eine junge Frau schaut in einen kaputten Spiegel.
Eine häufige Ursache für Suizide sind unbehandelte Depressionen. © Getty Images / Rafael Elias
Von Susanne Billig und Petra Geist · 23.11.2023
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Suizid ist die zweithäufigste Todesart bei jungen Menschen. Das Sprechen darüber gilt noch immer als Tabu. Welche Präventionsmaßnahmen gibt es, welche wären wünschenswert? (Erstsendung am 24.02.22)
"Ende 2018 habe ich mich dazu entschieden, die Ausbildung zu machen und jetzt als Beraterin für das Kinder- und Jugendtelefon zu arbeiten, vor allem in dem Bereich 'Jugendliche beraten Jugendliche'."
Mareen, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, ist 21 Jahre alt, studiert Psychologie und engagiert sich nach einhundert Stunden Ausbildung ehrenamtlich.
"Teil der Ausbildung ist natürlich auch Gesprächsführung und wie man selbst mit gewissen Gesprächen und Gesprächsthemen umgeht."
Auch Seraphin, 19 Jahre alt, möchte seinen Nachnamen außen vorlassen. Er lebt im brandenburgischen Babelsberg, hat 2020 sein Abitur gemacht und ist ebenfalls ehrenamtlicher Berater.
"Und da guckt man während der Ausbildung auch, wo die eigenen Stärken und Schwächen, die wunden Punkte liegen und setzt sich auch damit auseinander, weil einem am Telefon auch immer quasi ein Spiegel vorgehalten wird, und man auch Punkte von sich selbst erkennt, mit denen man vielleicht auch nicht so gut klarkommt."
Womit kommen Kinder und Jugendliche nicht gut klar? Wann wird es für sie so eng, dass sie sich – Mädchen genauso häufig wie Jungen – an die Hotline des Beratungstelefons wenden?
„Mein bester Freund hat mich auf WhatsApp geblockt“ bis hin zu: „Ich habe Suizidgedanken und ich würde mich jetzt suizidieren“, „Bin schwanger, was soll ich machen, bin noch unter 18?“ oder „Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht“, oder auch so was wie „Mein Vater schlägt mich, meine Mutter weiß das, macht aber nichts“, „Ich wurde vergewaltigt“ – ganz viele unterschiedliche Geschichten.

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen: Wenn Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden oder Suizidgedanken Sie beschäftigen, wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (gebührenfrei) und im Internet unter telefonseelsorge.de.

2020 nahmen sich 508 Menschen zwischen zehn und 25 Jahren das Leben. Bei den 15- bis 24-Jährigen ist laut Robert-Koch-Institut der Suizid nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache. Dazu kommt eine unbekannte Zahl an – nicht meldepflichtigen – Suizidversuchen. 
"Es vergeht hier eigentlich kein Tag, wir sind eine relativ große Klinik mit einem großen Aufnahmegebiet, dass nicht ein Rettungswagen kommt mit einem Jugendlichen, der zu uns kommt, weil er sich suizidal geäußert hat oder eine suizidale Handlung begangen hat, das haben wir ganz häufig."
Professor Christoph Wewetzer, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Köln. Wichtigste psychische Ursache suizidaler Gedanken sind unbehandelte Depressionen, sagt er.

"Initiativlosigkeit, Rückzug, Schlafstörung Appetitlosigkeit – das sind alles klassisch depressive Symptome und die Depression ist ein absoluter Risikofaktor für einen Suizidversuch oder einen Suizid.

Christoph Wewetzer

Drogen und Alkohol mindern Angst und machen gleichzeitig impulsiv – eine explosive Mischung. Weitere Risikofaktoren sind Angstzustände, Hyperaktivität und laut Christoph Wewetzer auch Borderline. Die Störung ist unter anderem charakterisiert durch emotionale Instabilität und chronische Gefühle von Leere. In der Fachwelt ist umstritten, ob Borderline auch bei Kindern diagnostiziert werden kann. Christoph Wewetzer ist aber davon überzeugt.
"Zu diesem Störungsbild gehört, dass ich anfange, meistens am Anfang leicht und dann immer stärker, mich selbst zu verletzen. Und wir wissen zum Beispiel, wenn ich jemand bin, der sich regelmäßig tief schneidet, nicht nur bisschen oberflächlich ritzt, dann habe ich ein unheimlich hohes Risiko für einen Suizidversuch oder wirklich für einen Suizid."

Mobbing im Internet

Suizidforen im Internet locken unsichere Jugendliche in einen unheilvollen Sog, hat der Jugendpsychiater beobachtet. Dazu kommt die asoziale Seite der sozialen Medien – das Cyber-Mobbing.
"Mit ein paar Klicks kann ich da jemandem extrem schaden, sehr viel leichter, als das früher war. Was glauben Sie, was wir hier auch weibliche Jugendliche haben, die ihrem damaligen Freund irgendein Nacktbild geschickt hat, nachdem die Beziehung zu Ende gegangen ist, er das ins Netz gestellt hat. Und die Jugendliche sich danach so schämt, dass sie danach einen Suizidversuch macht."
Corona brachte massive Einschränkungen für Heranwachsende. Eine aktuelle, noch nicht endgültig publizierte Studie der Universitätsklinik Essen findet unter ihnen einen sprunghaften Anstieg an Suizidversuchen im zweiten Lockdown im Frühjahr 2021. Für Christoph Wewetzer ist der klinische Eindruck eindeutig.
"Wir spüren alle in den Kliniken unter Corona-Bedingungen, dass wir alle mehr Notfallvorstellungen haben wegen Suizidalität. Auch mehr Notaufnahmen. Alle Kliniken sagen, Krisenvorstellungen wegen Suizidalität haben extrem zugenommen."
Ernste Reflexionen gehören zum Reifungsprozess junger Menschen. Zwischen 15 und 30 Prozent stellen sich dabei auch die Frage: Möchte ich weiterleben? Erst wenn Suizidgedanken sich stark in den Vordergrund drängen, spricht die Forschung vom „suizidalen Modus“: einem neurobiologischen Ausnahmezustand, bei dem die frontalen Gehirnstrukturen passiv werden. Das bedeutet: Impulse gibt es weiterhin. Aber sie werden nicht mehr von Reflexionen abgefedert.
"Grob gesagt, kommen dann diese Impulse aus tiefer liegenden Gehirnstrukturen – man nennt diese die limbischen Gehirnstrukturen, wie die Amygdala, den Mandelkern. Und diese Impulse überfluten dann das Gehirn; die lösen wirklich intensiven psychischen Schmerz aus, der einfach dann irgendwann einmal nicht mehr ausgehalten werden kann."

Das psychische Leiden soll enden

Die Psychologin Verena Leutgeb arbeitete lange in der neurowissenschaftlichen Forschung und leitet heute das Kompetenzzentrum von „GO-On“, einer Einrichtung zur Suizidprävention in Österreich.

"Menschen beschreiben sich dann wirklich wie in einem Autopilotenmodus und das Ziel ist dann einfach nur mehr, dieses psychische Leiden zu beenden und die eigene Existenz zu vernichten." 
Der präsuizidale Mensch empfindet Ohnmacht, Unverstandensein, Selbstverachtung, wird initiativlos, zieht sich zurück. Die Stimmung trübt sich. Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Müdigkeit sind die Folge. Schließlich verengt sich alles Denken auf den Suizid.

"Das ist auch die Phase, in der 80 Prozent der Betroffenen ihren Suizid ankündigen, quasi als letzten Hilferuf, wobei das natürlich auch sehr verdeckt erfolgen kann, also nicht alle sagen das ganz direkt."
„Ist doch egal, ob es mich gibt oder nicht.“ Angehörige sollten solche Sätze nicht auf die leichte Schulter nehmen, genauso wie plötzliche Ruhe, oft nur ein Zeichen, dass der suizidale Mensch sich befreit fühlt, weil er sich entschieden hat – für den Suizid. Aus den Aufzeichnungen von Videokameras an Gefahrenstellen ist bekannt, dass viele Menschen unmittelbar vor der suizidalen Handlung innehalten, zögern, vielleicht noch eine Nachricht schreiben. Verena Leutgeb.

„Das wollte ich eigentlich gar nicht!“

"Von Menschen, die von Brücken springen, wissen wir zum Beispiel, dass dieses Aufwachen bereits während des Fallens einsetzt. Also dieses: Was habe ich getan? Und: Das wollte ich eigentlich gar nicht! Das kommt schon während des Falls."
90 Prozent derer, die einen Suizidversuch überleben, wiederholen ihn nicht. Es mag für Hinterbliebene schmerzhaft sein aber, es ist ein Mythos, dass Menschen an einem Suizidversuch ohnehin nicht gehindert werden können. Verena Leutgeb.
"Man kann wirklich bis zum Schluss, bis kurz vor der Handlung, einen Suizid verhindern und Menschen, die Suizidversuche überleben, berichten: Ich wollte nicht sterben – ich konnte nicht mehr leben."
"Es war so, dass ich hier morgens beim Zahnarzt war und komm dann nach Hause, hab dann meine Post erledigt, was man halt so macht, und auf einmal bekam ich eben die Nachricht von meiner Freundin: Wie's mir ginge? Und da sag ich, gut wie immer, aber wieso?“
  
Pam Metzeler lebt im Allgäu. Als ihre Freundin anrief, vermutete sie zunächst keine schlechte Nachricht.
"Mein Timo sei es gewesen, da hätte sich einer das Leben genommen, also, uns ging‘s erst mal, muss ich auf Deutsch sagen, richtig beschissen. Man fällt da in ein Loch, ich bin schon ein Kämpfer, aber in dem Moment ist man einfach machtlos, man kann da nichts tun. Und es ist so schlimm, es ist gar nicht nachvollziehbar, was da in einem vorgeht."
Das war 2016, Timo 17 Jahre alt. Nachdem er sich das Leben genommen hatte, kam zu dem unerträglichen Schmerz des Verlustes eine knallharte Ausgrenzung.

Die Gesellschaft verursacht noch mehr Schmerzen, indem dass sie einfach sagt, bei einem Unfall, die armen Eltern, wie muss es denen wohl gehen? Bei dem Suizid heißt es sofort, da muss was zu Hause nicht gestimmt haben! Also das war Wahnsinn, die gaben uns die Schuld, und das ist wirklich immer noch ein totales Tabuthema.

Pam Metzeler

Auf Tod durch Krankheit oder Unfall lässt sich wenigstens mit Beleidsformeln reagieren. Ein Suizid ist von Redetabus umgeben, weiß die Psychologin Verena Leutgeb.
"Dabei wäre es unglaublich wichtig, einfach Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben, zu vermitteln, dass das eine ganz normale Todesart ist. Dass sie genauso drüber trauern können und sprechen können, und dass sie genauso in der Gesellschaft ihren Platz haben und nicht, ja, abgelehnt werden. Dass sie auch ein offenes Ohr bekommen und die Möglichkeit, einfach ihre Gefühle zu äußern und jemanden zu haben, der diese gemeinsam mit ihnen trägt und aushält." 
Suizid-Hinterbliebene kämpfen mit widerstreitenden Gefühlen: Trauer, Wut, Scham, quälende Fragen.
"Die Schuldgefühle sind brachial! Hätte ich nicht, könnte ich nicht, hätte ich nicht merken müssen? Da prasseln Fragen auf mich ein und ich muss wirklich sagen, vor dem Suizid meines Sohnes, wusste ich nicht, was Depressionen sind. Für mich war depressiv, ja, mir geht‘s mal kurz schlecht, aber ich wusste nicht, dass es eine gravierende Krankheit ist."

Welcher Teenager ist schon immer fröhlich?

Heute weiß Pam Metzeler: Ja, bei Timo hat es Anzeichen einer Depression gegeben. Er fühlte sich oft körperlich nicht wohl, zog sich in sein Zimmer zurück, schlief schlecht. Die Mutter reagierte wie viele Eltern: Sie hielt es für die normalen Wachstumsschmerzen der Pubertät. Welcher Teenager ist schon immer fröhlich? Heute sieht Pam Metzeler Timos Lage differenzierter.
"Wenn ich irgendwas zum Beispiel im Garten gemacht habe und er kam dann und sagte, Mama, was machst du denn da? Es gibt Dinge, die muss man einfach machen, wenn man sie macht. Da frage ich nicht, warum machst du das? Und dann hat er immer wieder mal gesagt: ´Aber es ist sinnlos.` Und das hat er bei ganz vielen Dingen gesagt, dass es sinnlos ist."

Folgen der Corona-Pandemie: „Wir sehen signifikante Anstiege von Angst, Depressionen und Stressbeschwerden“ – Angst spiele in der Coronakrise weiter eine große Rolle, sagte der Psychologe und Psychotherapeut Jürgen Margraf im Dlf. Wenn Angst lange anhalte, könne daraus eine Depression werden.

Über Depressionen zu sprechen, fällt vielen immer noch schwer. Von Redetabus sind auch Angstzustände, Alkoholismus, Tablettenmissbrauch umgeben. Andere nach psychischen Schwierigkeiten zu fragen, gilt als unhöflich. Verena Leutgeb.
"Jeder Mensch weiß, was bei Fieber zu tun ist, aber was ist zu tun, wenn der Mensch wirklich psychisch leidet, wenn jemand traurig ist, also dafür gibt's viel weniger Wissen oder Fähigkeiten in unserer Gesellschaft, aber natürlich ist es auch so, dass Menschen, die von psychiatrischen Diagnosen betroffen sind, ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko haben."
Das Beispiel des 17-jährigen Timo zeigt, wie wichtig es wäre, solche Tabus aufzubrechen.
"Er hat mir viel erzählt, von Freundinnen oder was weiß ich. Er hat wirklich viel erzählt. Wir hatten ein ganz offenes Verhältnis. Aber ich denke durch dieses Thema – er wollte nicht als bekloppt hingestellt werden, er wollte nicht als psychisch krank hingestellt werden, das ist mit Sicherheit so – diese Stigmatisierung, ´bei dir stimmt was nicht und du bist ein Idiot`. Die Scham ist einfach so groß."
Es gibt noch einen Grund, die Hinterbliebenen eines Suizids nicht allein zu lassen. Verena Leutgeb.

"Die Angehörigen, die haben nach Forschungsergebnissen in den zwei Jahren, die auf den Suizid des Angehörigen folgen, ein stark erhöhtes Suizidrisiko."

Es zählt die Anteilnahme

Richtige, beste Worte gibt es nicht. Es zählt die Anteilnahme. Beratungsstellen geben jungen Menschen einen Raum des Vertrauens, in dem sie sich öffnen können. Seit 1999 arbeitet das Kinder- und Jugendtelefon Potsdam als einer von 76 Standorten des Netzwerks „Nummer gegen Kummer“ in Deutschland.
Seit der Pandemie sprechen die Anrufenden noch öfter von Isolation, Stress, Gewalt in der Familie. Manche Jugendliche schreiben E-Mails wie Tagebücher an das Beratungsteam, weil sie sonst kein Gegenüber haben. Derzeit arbeiten hier 50 Ehrenamtliche, auch Seraphin und Mareen.
"Wir sehen die Person gar nicht, wissen gar nichts von dieser Person, haben keine Vorurteile, blicken da relativ neutral auf die Geschichten rauf und aufgrund von dieser Anonymität ist eben alles ansprechbar."
In der Ausbildung erarbeiten sich die jungen Beraterinnen und Berater eine persönliche Haltung zu schwierigen Lebensfragen. Sie haben geübt, selbstreflektiert zu bleiben und gleichzeitig offen auf andere zuzugehen. Jeden Samstag sitzen sie zu zweit am Telefon. An diesem Tag klingelt es oft – Jugendliche möchten gezielt mit anderen jungen Menschen sprechen, fühlen sich in Sprache und Lebenswelt verstanden.
"Suizidales Verhalten oder Suizidgedanken kommen natürlich auch vor. Zumindest habe ich auf jeden Fall einen Dienst im Monat, in dem dieses Thema auftritt. Es gibt Anrufer, die kommen direkt mit ihrem Thema und sagen: ´Ja, ich ritze mich.` Oder: ´Ja, ich spiele mit dem Gedanken mich umzubringen.` Und dann gibt es wieder Anrufer, die sind bisschen zurückhaltender, das kommt sehr auf den Anrufer an“, sagt Seraphin.
„Dass man dann eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalb Stunden mit den Anrufenden spricht, und dann merkt man irgendwann, okay, da könnten Suizidgedanken eine Rolle spielen oder genaue Suizidpläne“, berichtet Mareen.

„Es braucht den Raum für diese Gedanken"

Abwarten, Pausen aushalten, keine Ratschläge erteilen, sondern zuhören – und sich trotzdem nicht scheuen, auch direkt nach Suizidgedanken zu fragen. Das ist wichtig, betont die Leiterin der Beratungsstelle, Birte Freudenberg.
"Wenn ich es höre, dann gibt es die Chance, auch wirklich darüber zu sprechen. Nachzufragen. Auch wie konkret hast du es vor? Mit was stellst du es dir vor, zu tun? Und je konkreter es wird, umso mehr kommt der Jugendliche dazu, darüber nachzudenken und auch zu spüren, will ich das überhaupt? Und es braucht den Raum für diese Gedanken."
Die Professionalität der Beratenden besteht darin, Anrufende nur im dringlichsten Notfall mit den Telefonnummern von Psychiatrien oder anderen weiterführenden Einrichtungen zu konfrontieren.
"Weil es ja keinem etwas bringt, wenn ich dann sage, ich möchte jetzt unbedingt die Stelle einer Kriseneinrichtung hergeben. Das ist, auch wenn es vielleicht schwerfällt, nicht mein erstes Ziel. Mein erstes Ziel ist, das Gespräch zu führen, so gut wie es geht, und mit der Person ein Gespräch zu führen, das sie als hilfreich empfindet“, sagt Seraphin.
Was macht mein Leben lebenswert? Was untergräbt meine Lebensfreude? Warum fühle ich zurzeit so viel Angst und Verzweiflung und wie kann ich umsteuern? Diese Fragen muss jeder Mensch mehrfach im Leben neu beantworten. Jugendliche wissen oft gut, was sie gern erleben oder wohin sie gerne mal reisen würden. Allein das auszusprechen, kann im Gedächtnis haften bleiben und im Alltag eine gute Wirkung entfalten, hofft Mareen.

Auch kleinere Sachen wie mein Haustier sind ja besonders wichtig. Die machen ja das Leben auch lebenswert. Und da muss man eben mehr Punkte finden, die das Leben lebenswert machen, und weniger, die das Leben nicht lebenswert machen. Das ist auch so ein Teil, was wir in den Gesprächen probieren, genau.

Mareen

Auch ein Notfallplan hilft. Kinder und Jugendliche wissen, was ihnen im Leben schon einmal geholfen hat – daraus lassen sich Ideen entwickeln, sagt Birte Freudenberg.
"Aufzuschreiben, was kann ich tun, ganz konkret? Ich rufe meine Freundin an, ich rufe bei Nummer gegen Kummer an, ich lege mir was hin, was ich ablenkend tun kann, ich gehe spazieren – und das wirklich zu verschriftlichen und diesen Notfallplan dann wieder rauszuholen und sich anzugucken."

Wie redet man mit Kindern in der Not?

Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Erwachsene in der Jugendsozialarbeit oder im Sport können nicht mit befreiender Anonymität arbeiten. In nahen Beziehungen gibt es keinen Trick, der Gespräche über schwierige Themen plötzlich möglich macht. Hier zählt ein in Jahren aufgebautes Vertrauensverhältnis.
"Wenn man es anspricht, ist es zum Beispiel immer wichtig, als Elternteil, dass man ruhig bleibt, dass man möglichst eine Situation schafft, dass man mit dem Kind alleine spricht, dass man Zeit hat, nicht dass man es abbrechen muss, das Gespräch, dass man wirklich auch konkret fragt, warum hast du solche Gedanken? Gibt es Gründe? Können wir was verändern?", sagt derJugendpsychiater Christoph Wewetzer.
In Aufregung auszubrechen, hilft suizidalen Menschen nicht. Man entlastet sie, wenn man ihre erschreckenden Gedanken einfach einmal im Raum stehen lässt und mit ihnen aushält. Dann ist es irgendwann auch möglich, Sätze zu sagen, die beruhigend wirken.
"Hör zu, ich bin für dich da, ich hör dir jetzt mal zu, ich bemühe mich, dich zu verstehen, ich lass dich nicht allein. Dann auch: Ich nehme dich ernst, ganz wichtig für Kinder, denke ich. Und auch immer das Gefühl zu vermitteln, wir finden da gemeinsam eine Lösung", sagt Verena Leutgeb.
Überforderte Eltern sollten sich auch selbst Hilfe suchen, bei nahen Menschen oder noch besser bei Beratungsstellen. Dort erfahren sie auch, welche Warnzeichen tatsächlich alarmierend sind: regelmäßiges Ritzen, plötzliche Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen, Aggression und Feindseligkeit, Schlaflosigkeit.
Wenn jemand anfängt, Tabletten zu horten, Bahnstrecken abzugehen oder ein geliebtes Haustier zu verschenken, sind das ernst zu nehmende Alarmzeichen. Dann sollten Eltern ihr Kind nicht mehr aus den Augen lassen und den Rettungsdienst anrufen.
"Machen Sie das nicht mit dem eigenen Pkw, holen Sie einen Notarztwagen. Und was man Eltern immer wieder sagen kann: Wenn ich die Sorge habe, mein Kind ist jetzt suizidal und ich weiß gar nicht, wie ich über die Nacht kommen soll, dann gibt es versorgungspflichtige Kliniken für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie, wo man rund um die Uhr solche Jugendliche vorstellen kann. Man kriegt hier immer ein Krisenangebot“, sagt Christoph Wewetzer.

Es geht um eine Risikoabschätzung

Wie ernst ist die Lage des jungen Menschen? Das einzuschätzen ist die Aufgabe von Fachleuten wie Professor Christoph Wewetzer in der jugendpsychiatrischen Klinik. Sichere Diagnosen kann es aber auch hier nicht geben, betont er – es geht um eine Risikoabschätzung.
"Sind die Gedanken eher flüchtig, nicht konkret, mit eher geringen Leidensdruck, ist die Gefahr nicht so groß. Sind die Gedanken aber seit Längerem vorhanden, sind quälend, kommen immer wieder und werden im Inhalt immer konkreter, dann wird es gefährlich. Es bleibt immer eine klinische Einschätzung und das macht es häufig auch sehr schwierig."
Auch die darunterliegende Depression kann unterschiedlich ausgeprägt sein – von leicht verstimmt bis hoch depressiv. Dazu kommen unterschiedliche familiäre und schulische Umstände der Kinder und Jugendlichen. In der Klinik erhalten sie eine feste Ansprechperson und einen Sicherheitsplan für die Zeit danach.
Wenn das Selbstwertgefühl schwindet, wenn es innerlich eng und die Verbindung zum Leben schmal wird, dann brauchen gefährdete Jugendliche einen Werkzeugkoffer – Telefonnummern, Entspannungsmethoden, ein Wissen darüber, was ihnen guttut, sie erfolgreich ablenkt und innerlich aufhellt. Besonders wichtig ist der Mut, auf andere zuzugehen, wenn es schwierig wird. Gleichaltrige spielen dabei eine wichtige Rolle.
"Wir haben ganz häufig zum Beispiel, dass wir Jugendliche haben, die vielleicht Medikamente eingenommen haben in suizidaler Absicht und die dann der Freundin eine SMS schreiben, und sagen: ´Jetzt habe ich gerade Tabletten genommen.` Ja, und wir haben ganz viele, wo dann die Freundin im Endeffekt den Rettungswagen hinschickt und derjenige dann gerettet wird."

Jede Therapie ist individuell

Eine spezifische Therapie für suizidale Jugendliche gibt es nicht. Je nach Lage kann es sein, dass eine Depression eine medikamentöse Behandlung erfordert, die suizidalen Gedanken aber eher durch kognitiv-verhaltenspsychologischen Therapieform weniger werden können, während ein tiefer liegender Schmerz dafür spricht, in einer längeren Gesprächstherapie die Ursachen der eigenen Freudlosigkeit oder Verzweiflung anzugehen. Deshalb muss sich der Arzt oder die Therapeutin den einzelnen jungen Menschen sehr genau ansehen.
"Ist bei ihm eine Angstproblematik, ist es eine schwere Selbstwertproblematik, ist es eine depressive Symptomatik oder hat der ein Drogenproblem? Konsumiert er regelmäßig Cannabis, kommt deshalb in der Schule nicht mehr klar, ist demotiviert und kriegt im Moment sein Leben einfach nicht mehr geregelt? Und dann muss ich dort ganz spezifisch eingreifen", sagt Christoph Wewetzer.
Für den Klinikalltag spielt aber auch eine Rolle, dass viele Forschungsfragen rund um die Suizidalität von Kindern und Jugendlichen nach wie vor offen sind. Bekannt ist, warum mehr männliche Jugendliche am Suizidversuch sterben als weibliche – weil sie die härteren Suizidmethoden bevorzugen. Aber warum mehr Mädchen als Jungen versuchen, sich das Leben zu nehmen, ist unbekannt.

Wir wissen nicht, wie lange sollten sie stationär bleiben, wie intensiv muss ich ambulant arbeiten, reicht es einmal die Woche, machen solche Sicherheitspläne Sinn? Also, da fehlen ganz viele Studien, um uns ein bisschen mehr Sicherheit zu geben.

Christoph Wewetzer

Seit Pam Metzeler, ihren Sohn durch Suizid verlor, sind Aufklärung, Prävention, Tabus auflösen heute ihre Lebensaufgaben. Sie geht in Schulen, erzählt ihre Geschichte, stellt sich den Fragen der Jugendlichen, hat ein Buch geschrieben und engagiert sich in dem Verein „Trees of Memory“ als Ersthelferin für Suizid-Hinterbliebene.
"Die sind am Anfang so kraftlos. Wo gibt's denn hier Selbsthilfegruppen, wo krieg ich einen Therapieplatz, die haben die Kraft nicht, dass die danach suchen. Und wir als Ersthelfer gehen einfach zu diesen Leuten, reden mit denen oder hören einfach nur zu. Und wenn sie sagen, ich würde das und das brauchen, dann werden wir das alles für die raussuchen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für die Hinterbliebenen."
Aus ihrer eigenen Erfahrung weiß die 42-Jährige: Ohne therapeutische Begleitung, aber auch ohne Selbsthilfegruppe sind Trauer und Schuldgefühle kaum zu bewältigen. Anfangs war es schwer, den traurigen Geschichten der anderen zuzuhören, erinnert Pam Metzler sich. Dann fühlte sie sich verstanden, Freundschaften entwickelten sich und der Wunsch, anderen zu helfen.
"Dieser eine Mittwoch im Monat, wenn es stattfindet: Diesen Tag räume ich speziell für meinen Sohn ein. Das ist einfach sein Platz, den er jetzt hat, und dieser Abend gehört ihm."
Auch in der Deutschen Depressionsliga engagiert sich Pam Metzeler heute, kämpft für ein Ende der Stigmatisierung und wünscht sich mehr Engagement der Schulen.
"Dass das ganz normal in den Unterricht integriert wird. So erkennen sie auch die Symptome bei sich selbst oder bei Freunden. Es normalisiert sich einfach. Wie zum Beispiel bei Homosexualität. Vor 40 Jahren waren diese Menschen krank, heute ist es ganz normal. Und so müsste das auch mit psychischen Erkrankungen laufen."

Mit Öffentlichkeit vorsorgen  

Bei einem Pilotversuch in Nürnberg vor 20 Jahren wurden die breite Öffentlichkeit und Hausärztinnen und -ärzte konsequent über Depressionen aufgeklärt – die Zahl der Suizidversuche in der Stadt sank um 24 Prozent. Eine einzigartige Arbeit im deutschsprachigen Raum leistet die Suizidprävention "GO-On" in der Steiermark.
Die Einrichtung organisiert öffentliche Veranstaltungen, arbeitet mit der Wissenschaft und wendet sich präventiv an Menschen in pädagogischen und psychosozialen Berufen, bei Polizei und Feuerwehr. Hier arbeitet die Psychologin Verena Leutgeb.
"Diesen Menschen kommt deshalb eine so wichtige Schlüsselrolle zu, weil sie erstens natürlich direkt helfen können, und zweitens ihr Wissen weitergeben können an andere Menschen im Rahmen der Berufsausübung – und damit multiplizieren Sie den Effekt der Enttabuisierung."
Auch an die Medien richtet die Arbeit von "GO-On", damit sie lernen, so über Suizid und Depressionen zu sprechen, dass es zum Leben hin öffnet und hilft. Darum ist es wichtig, immer auch Beratungsstellen zu nennen und auf jede Emotionalisierung zu verzichten. Keine eindringliche Musik, keine Bilder von Orten, an denen Menschen sich das Leben genommen haben.
Keine romantisierenden Begriffe wie „Freitod“. Keine konkreten Beispiele und Prominentengeschichten. Von „Werther-Effekt“ spricht die Forschung: Wer die Innenwelten suizidaler Menschen zu eindringlich schildert, kann gefährdete Menschen in deren Stimmung hineinsaugen.

Es ist tatsächlich so, dass in dieser letzten Phase kurz vor dem Suizid Menschen sehr, sehr, sehr sensibel sind für Information von außen und da kann wirklich so ein Bericht und die Vorgabe von einer Methode oder von einem Ort, eine Initialzündung geben, um den Suizid dort oder in der Form durchzuführen.

Verena Leutgeb

Seit Jahren sinkt die Suizidrate weltweit. In Deutschland hat sie sich seit den 1980er-Jahren halbiert. Sie sinkt aber dort am wenigsten, wo die Redetabus am stärksten und die psychosoziale Versorgung am schwächsten sind. Darum wendet sich "GO-On" in Österreich intensiv an die ländliche Bevölkerung und klärt über psychische Gesundheit auf.
"Die Steiermark hat definitiv gemeinsam mit Kärnten immer noch die höchste Suizidrate in Österreich. Und in ländlichen Gegenden sind ja natürlich auch viele Risikogruppen für Suizidalität ansässig, wie zum Beispiel Landwirt:innen. Wir sind einfach vor Ort zum Beispiel durch den Wald gewandert und haben an zehn Stationen zehn verschiedene Strategien zum Erhalt und Förderung von psychischer Gesundheit und Resilienz mit denen besprochen, mit ihnen gemeinsam Übungen durchgeführt und das Thema so reflektiert."
Depressionen treffen einzelne Menschen. Gleichzeitig sind die hohen Betroffenenzahlen Ausdruck größerer gesellschaftlicher Schieflagen, betont die Psychologin.
"Wir sollten von der Leistungsorientierung unserer Gesellschaft wegkommen hin zu einer Orientierung an dem, was wir eigentlich brauchen, um gut und psychisch gesund leben zu können. Dass wir einfach besser aufeinander schauen, dass wir aufmerksamer sind für den Kummer und für die Probleme der anderen. Dass wir uns auch trauen, ganz offen nachzufragen oder unsere Hilfe anzubieten."
Mehr aufeinander zugehen, den Schmerz anderer ernst nehmen, Kinder und Jugendliche nicht allein im Internet versinken lassen, sich über Suizidanzeichen und psychische Erkrankungen informieren und sich selbst Hilfe holen, wenn es eng wird: Was so einfach klingt, wäre doch der entscheidende Schlüssel, um die Rate an Suizidversuchen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen noch deutlicher zu senken.
"Reden, reden, reden! Öffentlich darüber reden, keine Scheu davor haben, darüber zu sprechen!", appelliert Mereen.
"Die meisten Jugendlichen, die machen häufig vorher Hilferufe, sie suchen eigentlich eine Unterstützung. Und dann ist es ganz wesentlich, das aufzugreifen, das anzusprechen und umso mehr und konkreter ich das anspreche, umso besser ist es“, sagt Christoph Wewetzer.

Autoren: Susanne Billig und Petra Geist
Regie: Roman Neumann
Ton: Ralf Perz 
Redaktion: Kim Kindermann

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