Suizide in der DDR

Geheime Verschlusssache

32:33 Minuten
Büroklammern heften Blätter in einem Aktenordner zusammen.
In der DDR wurden Daten über Suizide zwar erhoben, ab 1961 aber nicht mehr veröffentlicht. © imago images / blickwinkel
Von Dorothea Brummerloh · 03.05.2023
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In der DDR war die Suizidrate europaweit am höchsten. Geforscht werden durfte dazu aber nicht, Statistiken blieben geheim. Manche widersetzten sich dem Forschungsverbot und nach dem Mauerfall wurden sogar verloren geglaubte Akten wiedergefunden. (Erstausstrahlung am 23.2.2022)
Besuch bei Werner Felber in Dresden. Der emeritierte Professor für Psychiatrie öffnet die Gartenpforte und bittet herein. Durchs Treppenhaus und einem engen Flur führt er ins Arbeitszimmer seiner Wohnung, das mit deckenhohen Bücherregalen, Sitzecke und Schreibtisch gemütlich eingerichtet ist.
Werner Felber leitete ab Mitte der 1970er-Jahre die Betreuungsstelle für Suizidgefährdete an der Dresdner Nervenklinik. Auch nach 1989 ist sein Forschungsschwerpunkt „Suizid“. Es war ein heikles Thema, erzählt der 77-Jährige.

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen: Wenn Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden oder Suizidgedanken Sie beschäftigen, wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (gebührenfrei) und im Internet unter telefonseelsorge.de.

In einem Land, in dem die Propaganda das wunderbare Leben zwischen Ostsee und Thüringer Wald pries, wurde offiziell nicht darüber gesprochen. Felber erzählt von seinem Kollegen und Vorgänger aus der Suizidberatungsstelle Dieter Decke, der 1976 den Fachartikel „Suizidale Handlungen bei Mitarbeitern des Gesundheitswesens“ bei einer Fachzeitschrift einreichte.
„Mein Kollege hat `76 noch eine Arbeit geschrieben über den Suizid und hat das an … ´Zeitschrift für Gesundheitswesen` geschickt. Er ist dann verstorben. Es hat nie jemand wieder etwas über die Arbeit gehört und Ende `89 habe ich einen Brief gekriegt von Berlin.
Der ging an den verstorbenen Kollegen Decke, wurde zu mir weitergeleitet und darin stand: ´Wir haben Ihre Arbeit erhalten. Im nächsten Heft des Gesundheitswesens wird diese Arbeit publiziert.` Da waren 13 Jahre vergangen. So ist man mit dem Ding umgegangen. Die sind in einer Schublade gelandet und hat kein Mensch mehr darüber geredet.“

Tabuthema Suizid

Über Selbsttötung und deren Umstände wird in den meisten Ländern wenig oder gar nicht gesprochen. In manchen Kulturen wird der Suizid als Todsünde betrachtet. Bezeichnend ist der Ausdruck „Selbstmord“, der auf Martin Luther zurückzuführen ist.
„Das ist allerdings in allen Ländern so", sagt Udo Grashoff. Der Historiker hat für sein Buch „In einem Anfall an Depression“ Tausende Selbsttötungen in der DDR analysiert.

In der DDR war es nun so, dass zu diesem normalen kulturellen Suizidtabu, was es in Westeuropa und auch in anderen Regionen der Welt gibt, noch ein politisches Tabu gab, was sozusagen noch dieses normale Tabu verschärft hat.

Udo Grashoff

Mit durchschnittlich 31 Suiziden je 100.000 Einwohner pro Jahr lag die Suizidrate der DDR europaweit an der Spitze, war anderthalbmal bis doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik. Diese Zahlen lassen erahnen, warum sie in der DDR geheim gehalten wurden.
„Es wurde in den 50er-Jahren ein hoher Anspruch gesetzt, dass der Sozialismus Alkoholismus ausgerottet, Kriminalität ausgerottet, Suizidalität ausgerottet. Das passt nicht ins System. Wir haben einen neuen Menschen geschaffen. Das sozialistische Menschenbild ist ja ein Terminus, der ständig gebraucht worden ist, und da hat man eben auch gemeint, dass die Suizide automatisch zurückgehen, weil das eher eine Enttäuschung im Leben ist und im Sozialismus gibt es keine Enttäuschung des Lebens“, sagt Werner Felber.

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„Die DDR war über weite Strecken hin abhängig vom Prestige und die DDR hat sich über weite Strecken als so ein Potemkin´sches Dorf inszeniert: Die Fassade musste stimmen. Was dahinter passiert ist, das war letztlich egal. Die DDR musste immer Spitze sein. Das internationale Renommee der DDR – das war der Dreh- und Angelpunkt der Politik der SED.
Und eine hohe Selbsttötungsrate hätte da sicherlich Zweifel wecken können, ob die eigenen Ansprüche an das neue Zusammenleben, an das ganze sozialistische Projekt so bei den einzelnen Menschen vielleicht gar nicht funktioniert. Und diese Gefahr haben die SED-Funktionäre gespürt und dann gesagt, das wird ein zu hoher Ansehensverlust. Das geht ans Eingemachte. Das können wir nicht offiziell bekannt geben“, erläutert Udo Grashoff.

Statistiken verschwanden im Giftschrank

Die Partei machte aus dem Thema Suizid ein Staatsgeheimnis. Ab 1961 wurden die Zahlen zum Suizid zwar preußisch korrekt erfasst, aber nicht mehr veröffentlicht. Die Statistiken verschwanden im Giftschrank. Von da an waren sie eine „vertrauliche Verschlusssache“ und nur noch ausgewählten Personen zugänglich.
Besuch bei Andreas Schulze: Er hat als Psychotherapeut bis 1980 an der Leipziger Uniklinik und der dazugehörigen Poliklinik gearbeitet. Der 73-Jährige erinnert sich:
„Das Thema ´Suizid` hat mich schon immer unglaublich beschäftigt und da hatte ich mich entschlossen, das als Dissertation einzureichen. Ich wollte in diesem Bereich forschen, habe das dem Professor vorgetragen. Der sagte, ja, prima. Das machen wir so. Zwei Stunden später erschienen zwei Leute von der Stasi bei mir – das war wie im schlechten Film – im Lodenmantel und da sagte der eine zu mir, wie wir gehört haben, wollen Sie sich mit dem Thema ´Suizid` beschäftigen.
Ja. Im Sozialismus gibt es aber keine Suizide. Das sollten Sie wissen. Wir können Sie nicht daran hindern, zu diesem Thema zu forschen. Aber bevor Sie das veröffentlichen, dann sind Sie dort, wo wir bestimmen, was Sie tun. Haben wir uns verstanden? Das hatte ich gut verstanden, weil die mich in den Knast gesteckt hätten. Das war die ganz offene Drohung.“
Prof. Werner Felber bestätigt: „Es durfte niemand darüber forschen. Es durften keine Zahlen erhoben werden, sodass das Problem nach außen hin objektiv dargestellt werden konnte. Also wenn man aus irgendeiner Zahl schließen konnte, dass in der DDR so und so viele Suizide passieren, das wurde sofort zurückgepfiffen.“

Die Zahlen wurden dennoch erfasst

Andreas Schulze hat die Daten trotzdem gesammelt. Als er 1980 nach Westdeutschland ausreisen durfte, konnte er diese brisanten Daten natürlich nicht in einem Köfferchen mitnehmen. Aber – Not macht allerdings erfinderisch:
„Ich habe eine Ur-Liste angefertigt, so nennt man das, wenn man Daten einträgt nach bestimmten Kriterien sortiert. Und wenn ich eine große Liste habe, da kann ich ja die Zeilen und Spalten nennen, wie ich will. Wenn da etwas drinnen steht über Karnickel und Hasen und die Fruchtfolge, ist das völlig unauffällig, da vermutet keiner etwas.
Dann habe ich jemand gebeten, wenn wir im Westen sind, hat diejenige eine ganze Reihe von Briefen geschrieben und hat dann nach einem bestimmten Schema, was wir verabredet haben, diese Zahlen mit der Benennung der Zeilen und Spalten übermittelt. Das konnte ich nicht am Mann haben und auswendig lernen. Das kam dann scheibchenweise per Post und so war das ganz sauber zu rekonstruieren.“
Diese geschmuggelten Zahlen waren später in Westdeutschland Grundlage für Schulzes Promotion, die unter dem Titel "Selbstmord und Selbstmordversuche in Leipzig. Zur Erklärung suizidaler Handlungen in der DDR" verlegt wurde.

Bis zu 6000 Suizide jährlich

Offiziell gab es keine Zahlen, keine Statistiken über Suizide, und nur sehr wenige Menschen wussten, dass sich jährlich bis zu 6000 Menschen das Leben nahmen. Die Dresdner Bürgerrechtlerin Freya Klier erzählt von ihrem Bruder Steffan.
Mein Bruder ist ein Jahr älter als ich gewesen und ist ein sonniges Kind. Der konnte schon mit drei Jahren jodeln, und er ist einfach zauberhaft gewesen. Aber wir beide waren ja im Kinderheim als kleine Kinder, weil mein Vater ins Gefängnis kam ein Jahr, 1953. Und das hat meinen Bruder sehr verändert. Also mich eher eingeschüchtert. Meinen Bruder gar nicht. Der ist richtig rebellisch geworden. Das ist natürlich in einer Diktatur sehr gefährlich.
Freya Klier erzählt, dass Steffan nicht mehr länger lügen wollte, zum Freigeist wurde, der überall im System aneckte. Der gelernte Tischler fing an, Schlagzeug zu spielen, gründete mit anderen Jugendlichen eine Band, die allerdings nicht auftreten durfte. Die 17-Jährigen träumten von den Stones, den Beatles, fanden die Texte dieser Bands cool. Auf verschlungen Pfaden besorgte man sich Texte der Rockstars und tauschte sie untereinander. Das blieb der Staatsmacht nicht verborgen.
„Da ist der Abschnittsbevollmächtigte dorthin und dann: Gebt die Texte raus und so etwas. Und die haben gesagt, wir haben gar nichts. Und dann hat er gesagt, bitte, wenn ihr diese Sprache nicht versteht, ich kann auch anders. Hat das Überfallkommando der Polizei herbeigerufen. So, und dann haben die zwölf Polizisten die sieben Jungs umringt, alle sind zusammengeschlagen worden, alle schrien wie verrückt vor Schmerzen. Und zwei von denen haben gerufen: Ihr Schweine, ihr Nazischweine.“

Haft und Psychiatrie, um Menschen zu brechen

Die Konsequenz: Die Jugendlichen landeten vor Gericht und im Gefängnis. Steffan bekam vier Jahren Jugendstrafe. Begründung:
„Wegen Staatsverleumdung, Besitzen feindlich negativer Texte oder Schund- und Schmutzliteratur wurde das dann genannt, also die Beatles- und Stones-Texte. Staatsverleumdung und das Dritte war Widerstand gegen die Staatsgewalt.“
Nach der Haftentlassung blieb Steffan rebellisch. Er halte die Arbeitsplatzbindung nicht ein, wurde ihm vorgeworfen, und er kam wieder ins Gefängnis. Die Stasi versuchte, ihn als Verräter für die Musikszene anzuwerben, er widerstand. Weil er weiter provozierte, wurde er unbefristet in die Psychiatrie eingewiesen. Das habe ihn gebrochen, sagt Freya Klier über ihren damals 30-jährigen Bruder.
"Dann ist er da rausgelassen worden und hat sich kurz danach umgebracht."
„Es gab Menschen, die so unter Druck gesetzt worden sind, die die Unfreiheit so stark zu spüren bekommen haben in der Diktatur, von der Stasi willkürlich behandelt worden sind, dass sie sich das Leben genommen haben. Man muss aufpassen, wenn man sich nur mit der Selbsttötungsrate beschäftigt, dass man nicht die einzelnen Menschen und die teilweise wirklich schrecklichen Schicksale aus den Augen verliert“, so der Historiker Udo Grashoff.

"Wir wissen bis heute nicht, von wem die stammt"

In der DDR war die Selbsttötungsrate anderthalb Mal so hoch wie in der Bundesrepublik. Warum?
„Es ist nicht einfach zu sagen, die hohe Suizidzahl ist eine politische Folge von DDR-Unrecht oder so etwas. Das kann man nicht als die wahre oder die hauptsächliche Ursache ansehen“, sagt der Dresdener Professor Werner Felber und weist darauf hin:
Ihren traurigen Spitzenplatz teilte sich die DDR in Europa mit Ungarn, Finnland, Österreich und Dänemark, also auch mit demokratisch verfassten Ländern. 1993 bekam Felber etwas Geheimnisvolles zugespielt.

Wir haben so eine riesige Papierwurst von Berlin zugeschickt gekriegt, wo die Zeit von 1961-89 alters- und geschlechtsmäßig die Suizidzahlen dargestellt worden sind für die ganze DDR. Diese Rolle ist ohne Absender bei uns angekommen. Wir wissen bis heute nicht, von wem die stammt.

Werner Felber

Um nicht einem Fälscher auf den Leim zu gehen, haben Felber und sein Kollege Peter Winiecki die Zahlen überprüft.
„Wir haben die Zahlen natürlich mit Bevölkerungszahlen verglichen. Wir haben Wahrscheinlichkeitsrechnung gemacht. Wir haben Zeitreihen aufgestellt. Aus unserer Sicht gibt es keinen Zweifel daran, dass diese Zahlen real sind. Das Zahlenmaterial ist glaubhaft.“
In ihrem Artikel, der im Gesamtdeutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde, schrieben Felber und Winiecki:
„Das Institut für Medizinische Statistik und Datenverarbeitung (Ost-)Berlin war wohl der Ort, wo die Informationen und Daten gesammelt und zurückbehalten wurden. Trotz baldiger Kontaktaufnahmen unsererseits 1990 führten die Wirren um die Auflösung dieser Institution zum Verlust zahlreicher Daten, z. B. der bezirksbezogenen Suizidzahlen und die dazugehörigen Suizidmethoden.“

Die verlorengeglaubten Suizidstatistiken

Ellen von den Driesch ist Soziologin und hat die in den Wendewirren verloren gegangenen, als verschollen geltenden Suizidstatistiken der DDR im Rahmen ihrer Promotionsarbeit wiedergefunden: im Speicher des Robert Koch-Instituts.
„Zur Wendezeit war natürlich extremes Chaos, auch in dieser staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, und da sind alle Tabellen, die man so retten konnte, in Kartons gewandert und das sind Suizidstatistiken gewesen und Information zu Kultur und Import und Export und alles.“
Die Soziologin fand in diesem Chaos die Statistiken der 15 DDR-Bezirke für die Jahre 1952 bis 1990. Ein Füllhorn an Informationen, erklärt die Wissenschaftlerin, die den Fragen nachging:
„Welche Unterschiede gab es innerhalb der DDR und welche zwischen Männern und Frauen? Wo waren die Suizidraten hoch, wo niedrig? Wie haben sich die Suizidraten entwickelt?“
Die Soziologin suchte nach Erklärungsansätzen für die hohe Suizidrate in der DDR.
„Zum einen ist es so, dass die DDR einfach Pech hatte bei der Grenzziehung. Also die Raten in dem Gebiet der späteren DDR waren schon Ende des 19. Jahrhunderts wahnsinnig hoch und noch deutlich höher als in anderen Regionen in Mitteleuropa.
Und das war unter anderem auch ein Grund, dass das die Soziologen Ende des 19. Jahrhunderts quasi als eines der großen Themenfelder schon fasziniert hat: Was war denn da eigentlich los in den Regionen? Also es hängt weniger damit zusammen, dass es Regionen sind, die in dem System der DDR waren. Sondern es war schon vorher.“

Höhere Raten in Sachsen und in Thüringen

Die geringsten Suizidraten fand von den Driesch in den Bezirken Neubrandenburg und Schwerin – im heutigen Mecklenburg/ Vorpommern, die höchsten Raten hatte der Bezirk Karl-Marx-Stadt, dessen Gebiet zu Sachsen zählt. In Sachsen und Thüringen waren die Suizidraten schon immer hoch, bestätigt Historiker Udo Grashoff dieses Nord-Süd-Gefälle. Über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus bis in die DDR – dieses historische Erbe kann man mindestens 150 Jahre zurückverfolgen. Grashoff versucht zu erklären:
„Da gibt es Unterschiede hinsichtlich der Mentalität. Wenn man mal im Rheinland unterwegs ist, merkt man das vielleicht auch, während das in Thüringen jetzt nicht immer unbedingt so ist. Abgesehen davon scheint auch die Religion eine gewisse Rolle gespielt zu haben.
Einmal, dass die protestantisch geprägten Gebiete Ostdeutschlands weniger Menschen davon abgehalten haben, sich das Leben zu nehmen, weil die protestantische Religion toleranter gewesen ist gegenüber Selbsttötung, als die katholische Religion, und andererseits war auch die Dunkelziffer in den katholischen Gebieten größer. Das heißt, weil Ärzte bereit waren, auf dem Totenschein eine andere Todesursache auszustellen im Interesse der Familie.“
Ein weiterer Faktor sei die Ehescheidung, so Grashoff. Schon der Soziologe Emil Dürkheim hat in seinen Studien eine Korrelation zwischen der Häufigkeit von Ehescheidungen und von Selbsttötungen festgestellt. Die Scheidungsrate in der DDR war ungefähr anderthalbmal so hoch wie in der Bundesrepublik. Und sie war auch schon in den 20er-Jahren in den ostdeutschen Gebieten höher als in den katholischen Gebieten.
Die Silhouette eines Volkspolizisten mit Gewehr im Anschlag, im Hintergrund verängstigt wartende Ostberliner, aufgenommen im August 1961 in der Swinemünder Straße im Wedding.
Im Zuge des Mauerbaus 1961 nahmen sich mehr Menschen in der DDR das Leben.© picture-alliance / dpa / Konrad Giehr
Udo Grashoff hat sich als Historiker seit Jahren mit Suiziden in der DDR beschäftigt. Der 55-Jährige hat sich dafür Akten der Staatssicherheit, der Mordkommission, Vorkommens-Akten des Ministeriums für Volksbildung und des Gesundheitswesens angeschaut, hat Promotions- und Habilitationsschriften von Psychiatern gelesen, die aufgrund des brisanten Themas „Suizid“ den Stempel „vertrauliche Verschlusssache“ bekommen hatten.
Er hat Gefängnisakten und die Akten der Nationalen Volksarmee studiert, Interviews mit Hinterbliebenen geführt. Dabei stellte er fest, dass von 1956 bis 1962 die Selbsttötungsrate in der DDR im Vergleich zum Kriegsende etwa um 25 Prozent sank. Der DDR-Staat rekrutierte das für sich: als Erfolg des sozialistischen Aufbaus. Dann kam das Jahr 1961, der Mauerbau. Die Selbsttötungsrate ging um bis zu zehn Prozent in die Höhe, bei jungen Männern noch deutlich mehr.
„Und das ist natürlich ein starker Hinweis darauf, dass die politischen Bedingungen nach dem Mauerbau eine Rolle gespielt haben und dass die Selbsttötungsrate in dieser Altersgruppe zwischen 20 und 30 in den ersten Jahren nach dem Mauerbau nahezu doppelt so hoch war wie vorher. Und da gibt es einige Gründe. Wenn jetzt Druck kam von Vorgesetzten, von Lehrern, von der Partei, von der Stasi, dann war die Möglichkeit der Flucht nicht mehr da, die vorher gegeben war.
Wir wissen, dass gerade in den ersten Monaten nach dem Mauerbau in der DDR sehr harsche, nahezu brutale Bedingungen geherrscht haben. Also der Umgang mit Staatsfeinden war sehr hart, also auch härter als vor dem Mauerbau. Es wurden sogar Lager für nicht arbeitswillige junge Männer eingerichtet. Die Gefängnisse haben sich gefüllt nach dem Mauerbau.“

Kollektivierung und Einführung der Wehrpflicht

In diese Zeit fällt auch die Kollektivierung der Landwirtschaft, ergänzt Werner Felber.
„Es ist berühmt-berüchtigt diese Zeit Ende der 50er-Jahre bis hinein in die 60er-Jahre, als die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft stattgefunden hat. Wer so ein bisschen Erzgebirge, Lausitz kennt, der weiß, dass sich dort Bauern haufenweise umgebracht haben, dass sie teilweise einen erweiterten Suizid begangen haben mit Vernichtung von Immobilien oder ihren Wohnraum. Da gab es einen Extraboom in dieser Zeit.“
1962 wurde außerdem die Wehrpflicht eingeführt. Eine Möglichkeit, als Bausoldat ohne Waffe zu dienen, weil man diese aus Gewissensgründen ablehnte, gab es noch nicht. Für die Zeit kurz nach dem Mauerbau, so Grashoff, sei ein Zusammenhang zwischen der Selbsttötungsrate und der politischen Unterdrückung in der DDR nachweisbar. Für den 17. Juni 1953, die Zeit nach dem niedergeschlagenen Arbeiteraufstand, findet man einen solchen statistischen Anstieg nicht.
Soziologin Ellen von den Driesch hat für ihr Buch „Unter Verschluss. Eine Geschichte des Suizids in der DDR 1952–1990“ die Statistiken ausgewertet und fand hohe Suizidzahlen in den 1970er-Jahren, in einer Zeit der Modernisierung und starker Veränderungen in der DDR.
„Es wird in der Soziologie auch davon ausgegangen, dass gerade solche strukturellen Veränderungen in der Bevölkerung dazu führen können, dass es keine Strukturen mehr gibt, an denen man sich festhalten kann, die man so kennt und dass quasi diese Modernisierungsveränderungen auch mit höheren Suizidraten einhergehen können.“

Männer begehen eher Selbstmord

Modernisierung verändert gewohnte Verhältnisse und erzeugt Verunsicherung, auf die die Menschen reagieren: Auch für die relativ stabile DDR galt, was in der Wissenschaft seit über 200 Jahren bekannt ist: dass deutlich mehr Männer als Frauen, mehr Alte als Junge Suizide begingen.
„Also der Suizid ist ja sowieso eher ein Phänomen des Alters. Der steigt mit dem Alter immer mehr an. Der alte Mann ist geradezu das Sinnbild des Suizids. Und in der DDR ist ohnehin eine hohe Altersbevölkerung gewesen, die deshalb zu einer hohen Suizidalität im Alter geführt hat. Sie ist sicher auch durch die sozialen Umstände, die für das Alter nicht günstig gewesen sind, zusätzlich etwas erhöht. Es gab ja kaum wirklich bewohnbare Altersheime oder Pflegeheime. Das ist ein großes Problem gewesen“, sagt Werner Felber.
„Da könnte man jetzt entgegenhalten, dass die Rentner als einzige Altersgruppe in der DDR das Privileg hatten, in den Westen zu reisen. Das hat auch bei vielen Rentnern die niedrige Rente kompensiert und den fehlenden Zugang zu Gütern, die in der DDR Luxus waren. Das viel wichtigere Argument hinsichtlich der Selbsttötung ist, dass diese hohe Selbsttötungsrate der Rentner auch ein historisch langfristiges Phänomen ist und keineswegs typisch für die DDR. Also dass sich alte Menschen mehr das Leben nehmen, ist sozusagen weltweit der Fall“, sagt Udo Grashoff.

Kann man den Zahlen trauen?

Oft werden Analysen von Zahlen und Statistiken der DDR infrage gestellt. Bekannt sind die geschönten Zahlen der Produktivität und bei der Jahresplanerfüllung. Hinsichtlich der Suizidzahlen und -raten gelte das nicht, erklärt Soziologin Ellen von den Driesch.
„Es gibt diese internationale Klassifikation von Krankheiten und Todesursachen. Das ist von der Weltgesundheitsorganisation so ein Schlüssel, der steht dann für bestimmte Krankheiten oder für Todesursachen und damit kann man dann Analysen machen oder Vergleiche machen. Und die DDR hat sich schon ab 1952 an diese internationalen Standards orientiert und dadurch waren die Daten innerhalb des Landes und auch international gut vergleichbar.
Und im Vergleich zur Bundesrepublik ist es so, dass diese internationale Klassifikation der Krankheiten nach der WHO-Kodierung erst 1986 eingeführt wurde. Und was in der DDR auch ein Vorteil war, ist, dass die Daten zentral erhoben wurden. Es gab die gleichen Erhebungsmethoden überall, die gleichen Gesetzesgrundlagen. Es gab auch hohe Obduktionsraten. Also man wollte auch tatsächlich wissen, welche Ursache hat jetzt wirklich zum Tod geführt.“
Angesichts der hohen Suizidrate in der DDR forderten Psychiater immer wieder, Suizide zu verhindern. Die Idee der „Suizidprophylaxe“ stammt vom Wiener Psychiater Erwin Ringel, der schon 1948 Suizidpatienten betreute, deren Selbstmordversuch gescheitert war.
„Das hat weltweit und auch in der DDR die Aufmerksamkeit auf das Suizidproblem gelenkt.“

Versuch der Prävention

Werner Felber erzählt von Erwin Wiele, einem Psychologen, der im Kreis Görlitz, im heutigen Sachsen, wo die Suizidrate überdurchschnittlich hoch war, schon Ende der 1950er-Jahre die erste Beratungs- und Betreuungsstelle aufbaute. Einen systematischen Aufbau solcher Beratungsstellen gab es nicht.
„Aber wir können in Dresden zumindest sagen, dass der Professor Lange 1967 diese Betreuungsstelle für Suizidgefährdete eingerichtet hat, wo das Konzept so war, dass wir die stationär aufgenommenen Suizidversuche weiter betreut haben. Das ist schon mal ein ganz wichtiger Schritt gewesen.
Und das ist damals sehr früh gewesen. Die ersten Betreuungsmechanismen in der Bundesrepublik waren in Westberlin, in den frühen oder mittleren 50er-Jahren von Kurt Thomas. Das ist aber eine rein kirchliche Angelegenheit gewesen damals, das hat sich nicht vervielfältigt.“
Ende 1960er-Jahre wollte man eine flächendeckende Suizidprävention in der DDR einführen, weiß Werner Felber, der bis zu seiner Pensionierung die Beratungsstelle in Dresden geleitet hat.

Die ist torpediert worden. Es sind immer wieder Anläufe gemacht worden, Hoffnungen geweckt worden, die sich aber letztlich nie durchgesetzt haben. Man wollte von dem Problem keine öffentliche Kenntnis haben.

Werner Felber

Dass sich das Ministerium für Gesundheitswesen überhaupt mit der Suizidprophylaxe und dem Thema beschäftigte, galt vielen Beteiligten als Signal für einen offeneren Umgang mit dem Tabuthema. 1969 wurde die erste evangelische Telefonseelsorge der DDR in Halle/Saale eingerichtet, erst später entstand parallel zur konfessionellen Telefonseelsorge „das Telefon des Vertrauens“, ein staatlicher Suizidpräventionsdienst.

Kurze Phase der Öffnung

Beim Umgang mit dem Thema Suizid gab es im Laufe der DDR-Geschichte Veränderungen: Mal wurde gelockert, dann wieder restriktiver verfahren. Das führte zu einem gewissen Handlungsspielraum für Psychiater und Psychologen, auch im Kulturbetrieb – Theater, Kunst, Literatur. Als die Ära Walter Ulbricht durch die Machtübernahme Erich Honeckers 1971 beendet wurde, hielt Honecker eine Rede.
„Da gab es diese berühmte Stelle, wo er sagt: ´Wenn man von den Positionen des Sozialismus ausgeht, dann braucht es eigentlich keine Tabus zu geben.`"
Dieser sinngemäß wiedergegebene Satz war für die Kulturschaffenden in der DDR ein starkes Signal. In der Belletristik war plötzlich möglich, was im täglichen Leben immer noch ein Tabu war. Volker Braun schrieb „Die unvollendete Geschichte“, Christoph Hein „Horns Ende“ - Romane, in denen der Suizid eine Rolle spielt. Ulrich Plenzdorfs Roman „Die neuen Leiden des jungen W.“ war als Theaterstück ein Renner.
„Es gab dann allerdings einen Einschnitt und der Einschnitt war so ungefähr 1977. Das war so das Jahr nach der Biermann-Ausbürgerung. Das war generell eine Krise in der DDR und in diesem Zusammenhang war es dann auch nicht mehr so einfach, über Selbsttötung zu schreiben, wenn es irgendwie direkt oder indirekt Zusammenhänge zu politischen Faktoren gab.“

Mögliches im Unmöglichen

Trotz phasenweiser Lockerungen erklärt Udo Grashoff, war die Situation für Suizidforscher in der DDR schwierig. Fachartikel wurden unter fadenscheinigen Begründungen nicht veröffentlicht, Dissertationen mit Geheimhaltungsgraden versehen und damit auch nicht für Fachkollegen zugänglich. Trotz der widrigen Forschungsbedingungen entwickelte Werner Felber in der Dresdner Betreuungsstelle eine „Typologie parasuizidalen Verhaltens“, die eine differenzierte Behandlung von Suizidpatienten ermöglichte.
„Parasuizid oder Suizidversuch ist eben nicht gleich Suizidversuch. Da gibt es verschiedene Typen und ich habe dort vier verschiedene Typen herausgearbeitet. Und das sind so zum Verständnis dessen, was so im Vorfeld einer suizidalen Handlung geschieht, anschaulich verschiedene Bilder, die natürlich fließend ineinander übergehen. Wir konnten ja sehr gute Prognosen stellen.“
Das habe eingeschlagen wie eine Bombe, sagt Werner Felber, und vielen Menschen das Leben gerettet. Auch wissenschaftlicher Austausch mit Fachkollegen aus dem westlichen Ausland war möglich.
„Es gab alle zwei Jahre in Ungarn seit 1982/84 einen Suizid-Kongress in Szeged. Da waren der dortige Leiter der Klinik und seine Frau, die sich mit Suizid beschäftigt haben, und da wurde sozusagen ein gesamtdeutsches Treffen der Suizidforscher gemacht. Und da kamen die aus Stuttgart und aus Hamburg und Mannheim und wir aus Halle, aus Leipzig und aus Dresden und auch aus Rostock und sind dort sozusagen mit den Leuten bekannt geworden.
Und da gab es richtig ein Symposium. Da trug jeder seine Ergebnisse vor. Für uns war das natürlich ein Sahnehäubchen, dass wir die Leute, die sich mit Suizidalität beschäftigen, treffen konnten und gemeinsam sozusagen Wissenschaft betrieben haben.“
So verschaffte sich die Wissenschaft Freiräume auf einem Gebiet, mit dem der SED-Staat ein grundsätzliches Problem hatte, so Historiker Udo Grashoff:
„Wenn man ein Verständnis des Menschen hat, wie ihn die Propagandisten des Sozialismus hatten, dass letztlich die gesellschaftlichen Verhältnisse das Leben bestimmen, also auch das Leben der Individuen, ob ein einzelner Mensch glücklich wird oder nicht, also wenn man diese kommunistische Normvorstellung eines Menschen hat, dann muss die hohe Selbsttötungsrate der DDR als Versagen des Sozialismus der DDR angesehen werden.“
Dass der Staat das Thema „Suizid“ wie ein Staatsgeheimnis behandelte, trug zur Bildung von Mythen über den Zusammenhang von politischem System und Selbsttötung bei, die wissenschaftlich nicht belegbar sind.
„Selbsttötungen in der DDR hatten verschiedene Gründe, die von Krankheit über Beziehungskonflikte bis zu Angst vor Strafe reichten. Aber in den allermeisten Fällen waren das Gründe, die aus dem normalen zivilen Leben resultierten und nicht aus den politischen Verhältnissen“, sagt Udo Grashoff.

Sprecherin: Cathleen Gawlich
Ton: Jan Fraune
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Winfried Sträter

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