Spaziergänger und Spaziergangswissenschaft

Wer geht, sieht mehr

07:30 Minuten
Illustration: Eine Person mit Hund geht in surrealer geometrischer Landschaft spazieren.
Zu Fuß durch die Stadt: Die Spaziergänger:innen sind auf dem Vormarsch. © imago / Yenpitsu Nemoto
Von Gunnar Lammert-Türk · 28.07.2021
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Alles wird immer schneller. Dieses Lebensgefühl begleitet uns seit Jahrzehnten. Da hilft nur noch Entschleunigung, zum Beispiel beim Spazierengehen. Wie sich dabei unsere Wahrnehmung verändert, dafür interessiert sich auch die Wissenschaft.
"Oft merke ich, okay, jetzt brauche ich mal ein bisschen Durchzug im Kopf", erzählt Olivia Türk. "Dann ist Laufen die Form, sich zu bewegen, ohne dass man was vorbereiten muss. Laufen funktioniert einfach immer - hier und jetzt, sofort kann es losgehen. Ohne Ablenkung. Ein bisschen gucken gehört dazu, aber nichts weiter, was mich vom Laufen abhält."
Die junge Bäckerin Olivia Türk spaziert gern und viel durch Berlin: mal kürzer, oft länger, mit und ohne Ziel; zur Erholung, zur Besinnung und Sammlung. Zu Beginn jedes Spaziergangs bedrängt sie die große Stadt mit ihrer visuellen und akustischen Flut und Macht.
Aber bald verliert sich das. "Für mich stellt sich dann aber meistens irgendwann so ein Filter ein, wo ich dann schon noch wahrnehme nach außen und auch gerne gucke und, wenn ich Strecken öfter laufe, dann auch mal Neues entdecke, was so um mich rum ist", sagt Olivia Türk.
"Aber dann irgendwann schaltet sich bei mir tatsächlich die Beobachtung von außen so ein bisschen nach innen. Und von diesem lauten, riesigen Sprachrohr der Stadt reduziert sich das dann so von Minute zu Minute auf was viel Leiseres, Ruhigeres so."

"Eine Art Lektüre der Stadt"

Auf ihre Weise macht Olivia das, was die großen Flaneure des späten 19. und des 20. Jahrhunderts machten: Diese geistreichen fußläufigen Erkunder der großen Städte Wien, Paris und Berlin. Die im Bekannten Unbekanntes entdeckten und die entlegensten Winkel aufspürten. Wie Guillaume Apollinaire, Peter Altenberg, Robert Walser, Walter Benjamin, Franz Hessel.
In seinem 1929 erschienenen Buch "Spazieren in Berlin" schrieb Hessel: "Flanieren ist eine Art Lektüre der Stadt, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben."
Die Stadt lesen - das tun die Flaneure. Dafür schlendern sie umher. Sie wittern, woran andere achtlos vorübergehen. Sie tauchen ein in die Tiefen und Untiefen der Stadt, erspüren ihren manchmal kalten stählernen und asphaltenen großen Atem, aber auch ihre Poesie, erschließen ihre Milieus und Lebenswelten. Sie tun das, was Franz Hessel sich wünschte: Sie bewohnen ihre Stadt.
Mehr noch: Stadtspaziergänger "bewohnen" nicht nur ihre Stadt, sie merken auch, wo sie besser und wo sie schlechter bewohnbar ist. Sie registrieren, was dem Leben in der Stadt zuträglich ist und was nicht. Das ist wichtig für die Gestaltung der städtischen Umwelt. So sah es der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt.

Die einfachste Art, sich die Umgebung zu erschließen

Er erfand die sogenannte Spaziergangswissenschaft – eine Disziplin, die Architektur mit Stadt- und Landschaftsplanung verbindet. Der Nachfolger auf seinem dafür eingerichteten Lehrstuhl an der Universität Kassel, Martin Schmitzaddon, schreibt über Burckhardts Ansatz:
"Das Spazierengehen ist die ‚natürlichste‘ und einfachste Art, sich eine Landschaft oder eine Stadt zu erschließen. Allerdings spazieren wir heute nur noch selten durch die Welt; selbst wenn wir wandern wollen, steigen wir zunächst einmal ins Auto, das uns in den Wald oder auf den Berg bringt. Hochgeschwindigkeitszüge rücken Städte und Regionen näher zusammen, das Flugzeug bringt uns in wenigen Stunden zu fernen Kontinenten. Wir sind mobil wie nie zuvor, und das hat Folgen für unsere Wahrnehmung: Wir sehen die Welt im Schnelldurchlauf. Entsprechend unscharf sind die Bilder und Vorstellungen in unseren Köpfen."
Diese unscharfen Vorstellungen können durch den Gang zu Fuß revidiert werden. Dabei wird nicht nur die grobe Wahrnehmung aufgrund der Geschwindigkeit des Vorbeiziehens durch eine genauere ersetzt. Auch die medial erzeugten Bilder der Stadt erfahren eine Korrektur.

Erkenntnisse für die Stadtplanung und das Bauen

Martin Schmitz, der Promenadologe, sagt: "Wir leben ja in einer Zeit einer noch nie da gewesenen medialen Beeinflussung. Und wir leben in einer Zeit einer noch nie da gewesenen Mobilität. Und jetzt sind wir bei der Spaziergangswissenschaft: Genau diese Aspekte hat eben Lucius Burkhardt zusammengebracht: die Mobilität – das geht um Fahren, Fliegen –, unsere Wahrnehmung, und wie das Ganze mit der Planung und dem Bauen, also der Gestaltung unserer Umgebung, zurückgekoppelt wird."
Dass diese Gestaltung nicht allein der Mobilität folgt, darum ging es Lucius Burckhardt. Schon 1949 als Student in Basel protestierte der spätere Spaziergangswissenschaftler deshalb gegen die Gefährdung der Altstadt im Zuge der Umgestaltung Basels in eine autogerechte Stadt.
Neben der Infrastruktur des Verkehrs gibt es eben auch eine soziale. Und neben der schnellen Bewegung von Ort zu Ort steht die Gestaltung dieser Orte selbst und die Lebensqualität derer, die dort leben. Wo die gefährdet ist, das lässt sich fußläufig erfahren.

"Hier stimmt was nicht"

Stadtspaziergängerin Olivia sagt: "Wenn man dann aber mal so richtig hinguckt, dann gibt es schon so Orte – meist Kreuzungen oder irgendwelche Hauptstraßenabschnitte –, wo du eigentlich nur Anstrengung in den Menschen siehst. Also wenn du denen in die Gesichter schaust, dann gibt es an bestimmten Kreuzungen oder Orten eigentlich niemanden, der sich da mit einer absoluten Entspannung darüber bewegt. Ich glaube, an solchen Orten kann man als Fußgänger schon irgendwie feststellen: Hier stimmt was nicht, das funktioniert nicht für alle Teilnehmer."
So können Stadtspaziergänger gewissermaßen auch Stadtdiagnostiker sein. In ihrer Liebe zur Fortbewegung mit den eigenen Füßen stehen sie in einer langen Tradition. Einer ihrer Ahnen war der passionierte Fußgänger Johann Gottfried Seume, der von Grimma in Sachsen bis nach Syrakus in Sizilien wanderte.
Er schrieb: "Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge."
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