Anthologie: "Flexen. Flâneusen* schreiben Städte"

Wenn der Spaziergang zum Protest wird

11:54 Minuten
Cover zum Buch "Flexen - Flaneusen schreiben Städte"
Was Frauen erleben, wenn sie in der Stadt unterwegs sind, erzählen sie in dem Buch "Flexen". © Verbrecher Verlag
Von Bettina Baltschev |
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Nicht alle können entspannt durch die Straßen schlendern: Frauen etwa müssen im öffentlichen Raum mit Belästigungen rechnen. Ein neues Buch erzählt davon, wie sie die Städte zurückerobern – und rechnet ab mit dem Mythos des männlichen Flaneurs.
Ein wenig altmodisch klingt dieses Wort schon: flanieren. Erinnert es doch an Zeiten, in denen weder Smartphone noch Kopfhörer von der Stadt ablenkten, durch die man gerade spazierte. Wer flaniert, konzentriert sich ganz auf das, was er sieht, hört und fühlt. Ein Vorgang, zu dem es wenig braucht, außer Neugier und einen offenen Blick. Doch genau um diesen Blick geht es, wenn neben dem literarisch gut eingeführten Flaneur nun auch die Flaneuse ihren Platz beansprucht. Und nachdem im letzten Jahr die Amerikanerin Lauren Elkin mit ihrem Buch "Flaneuse" die weibliche Perspektive auf einige Großstädte gelenkt hat, liegt nun eine deutsche Anthologie vor, die diese Perspektive noch einmal weitet.
Im Vorwort von "Flexen. Flâneusen* schreiben Städte" sprechen die Autorinnen mit einer Stimme: "Denn das, was ich mache, ist nicht einfach nur ein nettes Herumspazieren, ein Lustwandeln, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin noch kein Teil einer Tradition, es gibt von mir noch kein Bild mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards, keine Literaturgeschichte. Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen. Oder es heißt: Gesehen werden. Oder: Vollkommen unsichtbar sein. In jedem Fall wurde meine Stimme bis heute zu selten angehört und hat zu selten die Seiten von Büchern gefüllt."

Der Mythos des männlichen Flaneurs

Genau das aber ist die Mission von "Flexen", die Seiten mit Stimmen füllen, für die in einer männlichen und westlich dominierten Literatur wenig Raum ist, feministische Stimmen, queere Stimmen, migrantische Stimmen, verletzte Stimmen. Der Titel des Buches weist dabei ziemlich treffend auf seinen Inhalt, denn das Wort "flexen" ist äußerst vielseitig. Es kann "trennschleifen", "biegen", "Sex haben", "das Variieren der Geschwindkeit beim Rap" oder das "Zurschaustellen von Muskeln" bedeuten. Und all das passiert auch in den 30 Texten dieser Anthologie, natürlich in literarischer Form.
Anke Stelling zum Beispiel trennschleift lustvoll den Mythos des männlichen Flaneurs: "In meinen Augen bist du ein verwöhntes, sichersattes Söhnchen, das publikumswirksam Bohèmeleben spielt. Nur so tut, als sei es ungebunden; in Wahrheit hast du deine Leserschaft im Rücken, ihr gibst du den Künstler, kriegst es im Feuilleton gedankt. (…) Mir ist sie peinlich, deine Pose. Im wahrsten Sinn des Wortes: Sie schmerzt. Seit hundert Jahren bist du schon derselbe, du bist so albern und dennoch nicht wegzudenken, du bist stark, du bist Teil der literarischen Tradition."
Eine literarische Tradition, die sich aus einem männlichen Selbstverständnis speist, das es für Frauen so einfach nicht gibt. Ist doch der öffentliche Raum für sie eine Zone, in der sie immer wieder auf ihr Geschlecht hingewiesen werden, manchmal eher subtil, manchmal aber auch sehr eindeutig. Mirjam Aggeler findet dafür eine vielsagende Szene:
"Im Bus von X nach Y. Neben mir ein alter Mensch. Sich männlich behauptend. Ein freundliches Nicken, als ich mich zu ihm setzte. Ich glaubte an einen Zufall. Als sein Bein das meine berührte. Selbst beim zweiten Mal: Das Gleichgewicht verloren vielleicht. Nichts, was nicht passieren kann. Nichts, was der Rede wert wäre. Nur eine leichte Berührung. Nur eine leichte Gänsehaut. Ein leichtes Zurückzucken. Das war’s. Aber das war es nicht. Ich wurde schmaler neben ihm. Ausgleichsversuch. Er wurde breiter neben mir. Ausgleichsversuch. Von Gleichgewicht keine Rede."

Unterwegs in Berlin, Jakarta, Istanbul

Man könnte einwenden, hier würden Ausnahmeerscheinungen thematisiert, und frau solle sich doch nicht so anstellen. Aber allein dieser Hinweis ist Teil des Problems und Grund genug für ein Buch, dass keineswegs nur mit dem Finger auf das merkwürdige Verhalten männlicher Großstädter weist. Vielmehr handelt dieses Buch in großen Teilen von Widerstand, von Eroberung und kraftvoller Ermächtigung. Diese Frauen wollen sich nicht abfinden mit festgefügten Rollenzuschreibungen. Sie nehmen sich, was ihnen zusteht. Denn sie sind hungrig, schreibt Halina Mirja Jordan.
"Ich verschlinge diese Stadt, ich nehme sie mir Bissen für Bissen, bis ich ganz ausgefüllt bin von ihr und sie nur mir gehört, zumindest temporär. Ich verspeise die Stadt, weil ich sie liebe und besiegen will. Scheiß auf die ganze Bäckerei, ich will auch den Späti und den Juwelier, die ganze Straße, den Kiez, alles. Mund auf und rein damit, always hungry, sag ich ja."
Viele der hier schreibenden Flaneusen sind natürlich in Berlin unterwegs, es ist nun mal die deutsche Flanier-Hauptstadt. Aber auch Dresden, Dublin, Jakarta und Istanbul sind Orte, die erlaufen werden wollen, wo ein anderer, ein frischer Blick neue Perspektiven eröffnet. Meist flanieren die Autorinnen selbst, nur Julia Lauter berichtet von der indischen Aktivistin Neha Singh, die in den Mumbai den Spaziergang als Protestform für sich entdeckt hat.
"Am Tag sind hier viele Menschen unterwegs, die den Strand im Norden von Mumbai besuchen wollen. Doch nun, in der Nacht, sorgt das Auftauchen einer jungen Frau für Aufruhr. Die Männer starren sie an, blicken über ihre Schultern hinweg auf die Straße, ob da noch wer kommt, die Atmosphäre ist angespannt. Neha Singh nimmt einen ersten Zug ihrer Zigarette, bläst den Rauch hoch in die Luft. Sie kennt das, das Starren, das missbilligende Schweigen, die unangenehme, manchmal bedrohliche Stille."

Nach Joyce noch über Dublin schreiben

Es ist die Vielfalt der Stimmen und Formen, die das Buch "Flexen. Flâneusen* schreiben Städte" ausmachen. Nicht immer kann die literarische Qualität mit der Verve und der Aufbruchsstimmung mithalten, die in den meisten Texten zum Ausdruck kommt. Aber wie auch, wenn sich diese Form des Schreibens erst etablieren muss. Ganz offensichtlich muss hier ein neues Terrain ausgemessen werden, das zudem überschattet ist von übergroßen männlichen Vorbildern. Ein Eindruck, den Bettina Wilpert an einer Stelle schön zusammenfasst.
"Jetzt bin ich in Dublin und ich kann nicht darüber schreiben, weil – hallo: James Joyce. Wie kann ich durch diese Stadt gehen, sie beobachten, beschreiben und etwas Neues hinzufügen, was Joyce noch nicht in Ulysses getan hat. Ich traue es mir nicht zu. Da liegt wohl das Problem."
Hat man "Flexen. Flâneusen* schreiben Städte" gelesen, ist auch der eigene Blick geschärft. Dafür, wie Menschen aller Couleur sich in der Stadt bewegen, wie viel Freiheit sie sich selber nehmen und dem anderen lassen. Wer noch Flaneur ist und wer schon Flaneuse.

Flexen. Flâneusen* schreiben Städte
Hrsg. v. Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann, Lea Sauer
Verbrecher Verlag 2019
272 Seiten, 18 Euro

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