Barbara Skarga: „Nach der Befreiung“

Das Gulag als Spiegel des Systems  

Buchcover zu „Nach der Befreiung“ von Barbara Skarga
© Hoffmann und Campe

Barbara Skarga

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Nach der Befreiung. Aufzeichnungen aus dem GulagHoffmann und Campe, Hamburg 2024

516 Seiten

28,00 Euro

Von Marko Martin · 02.05.2024
Die langjährigen Gulag-Erfahrungen der 1944 verschleppten polnischen Intellektuellen Barbara Skarga sind noch heute von verstörender Aktualität. Nun ist ihr Buch "Nach der Befreiung" endlich auch auf Deutsch zu lesen.
Die ehemalige Studentin Barbara Skarga ist 25 Jahre alt, als sie im September 1944 in Vilnius von der sowjetischen Armee verhaftet wird. Zwar war die junge Polin zuvor im antinazistischen Widerstand tätig gewesen, jedoch auf Seiten der nichtkommunistischen Armia Krajowa (AK), deren Ausmerzung für den Kreml von entscheidender Bedeutung war: Bei der Neuordnung Osteuropas nach der Befreiung vom Nationalsozialismus sollte der sowjet-russischen Dominanz nichts mehr entgegenstehen.
Vier Jahrzehnte später, da ist Barbara Skarga bereits eine in Polen hoch anerkannte (nichtkommunistische) Philosophin, veröffentlicht sie unter Pseudonym ihre Lager- und Deportations-Erinnerungen – und zwar mit jenem bitter sarkastischen Titel „Nach der Befreiung“. Sie war eine von Hunderttausenden Polen und Balten, die Stalins Regime in den Gulag hatte werfen lassen, doch hatte sie im Unterschied zu zahllosen anderen überlebt. Aber auch 1954, nach dem Ende ihrer zehnjährigen Haftstraße in Russland, gab es keine sofortige Rückkehr zu ihrer Familie, die nunmehr im sowjetisierten Polen lebte: Noch ein ganzes Jahr lang musste sie in einer sibirischen Kolchose Zwangsarbeit leisten.

Zeugnis geben in grauenhafter Zeit

In ihrem Buch erzählt Barbara Skarga von all diesen Schrecken, leistet jedoch noch viel mehr: Es ist vor allem das Leid der Anderen, das in ihren Blick gerät, einen Blick, der sich immer wieder selbst versichern muss, nicht zu verengen und nicht abzustumpfen. Unvergesslich (gerade weil die Lektüre dieses Buchs derart erschütternd und verstörend ist) die Biografien jener, die in den russischen und kasachischen Lagern ihre Wege gekreuzt hatten – für kurze Zeit, ehe diese Menschen im Nirgendwo verschwanden, verhungerten oder ermordet wurden.
Da ist etwa jene jüdische Frau aus Prag, die mit ihrer Familie die deutsche Besatzung in einem Versteck überlebt hatte, damit sie nun alle - „nach der Befreiung“ - nach Palästina auswandern könnten. Stattdessen findet sie sich als vermeintliche „zionistische Agentin“ in einem sowjetischen Lager wieder, brutal ihrem Mann und den Kindern entrissen.

Nicht allein kommunistische Wurzeln des Terrors

Am eindrücklichsten aber wohl jene russische Frau, die sich selbst als Mann sieht und Sergei nennen lässt. Ihre Position im (nicht zuletzt auch brutal sexualisierten) Lageralltag ist mehrfach vulnerabel, da ihr die sadistischen Wächter immer wieder androhen, sie in den Männertrakt zu verlegen. Was Sergei in langen Gesprächen Barbara Skarga mitzuteilen weiß, aber bleibt für uns alle bewahrt. In Sergeis Worten:

„Wenn wir nur an uns selbst denken würden wie jede normale Nation, dann könnten wir friedlich leben, nicht weniger reich als etwa die Kanadier. Wir haben alles: Rohstoffe, Menschen, und sogar sehr begabte Menschen. Aber wir vergeuden die Kraft, die in diesem Land steckt, an Propaganda, Rüstung und destabilisierende Einmischung in andere Regionen, wo immer wir können. Warum eigentlich? Zar Peter träumte davon, das Fenster zum Westen zu öffnen. Unsere Machthaber träumen davon, über den Westen zu herrschen.“

Ein Buch auch als Augenöffner für heute

Barbara Skarga starb 2009 hochbetagt in Warschau. Die polnisch-belgische Philosophin Alicja Gescinska schreibt in ihrem Vorwort: „Skarga beschrieb, wie es früher war, und die Parallelen zur heutigen Zeit sind nicht zu verkennen.“ Auch erinnert sie daran, auf wen sich die Philosophin, die stets auf das Leid des Einzelnen rekurrierte und als Atheistin durchaus von der Existenz der Bösen überzeugt war, immer wieder bezog – nicht zufällig auf ihre im Westen lebenden osteuropäischen Kollegenfreunde Leszek Kolakowski und Emmanuel Lévinas. In der Internationale der unbestechlich Hellsichtigen sollte der Name von Barbara Skarga deshalb auf keinen Fall fehlen.
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