Warlam Schalamow: „Erzählungen aus Kolyma“

Erinnerungen in kristallklarer Prosa

Buchcover: Warlam Schalamow „Erzählungen aus Kolyma“
© Buchcover: Warlam Schalamow „Erzählungen aus Kolyma“

Warlam Schalamow

Erzählungen aus Kolyma. Eine AuswahlMatthes & Seitz , Berlin 2025

270 Seiten

16,00 Euro

Von Uli Hufen |
Fast zwanzig Jahre verbrachte der russische Autor und Dissident Warlam Schalamow als Häftling in sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern. Seine „Erzählungen aus Kolyma“ gehören zu den bedeutendsten Werken der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Die erste Erzählung im ersten der sechs Kolyma-Zyklen von Warlam Schalamow heißt „Im Schnee“ und beginnt mit einer einfachen Frage: „Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?“ Es folgt eine kurze einseitige Anleitung, in der Schalamow die Frage beantwortet. Sachlich, emotionslos.
„Ein Mann geht voran, schwitzend und fluchend, setzt kaum einen Fuß vor den anderen und bleibt dauernd stecken im lockeren Tiefschnee. Der Mann läuft weit vor und markiert seinen Weg mit ungleichen schwarzen Löchern. Er wird müde, legt sich in den Schnee, steckt sich eine Papirossa an, und Machorkarauch schwebt als blaues Wölkchen über dem weißen funkelnden Schnee.“
Jedes noch so kleine Detail ist von größter Bedeutung, es geht um lebenswichtiges Know-How. Wir sind in Nordost-Sibirien an der Kolyma, wo Temperaturen von minus 40 Grad im Winter keine Seltenheit sind. Die Männer im Schnee sind unterernährte Häftlinge.

Sterben und Überleben an der Kolyma

In „Durch den Schnee“ führt Schalamow paradigmatisch vor, was er selbst verlangt hatte:

„Man muss und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument nicht zu unterscheiden ist. Nur muss der Autor sein Material mit der eigenen Haut erforschen - nicht nur mit dem Geist, nicht nur mit dem Herzen, sondern mit jeder Pore der Haut, mit jedem Nerv.“

Warlam Schalamow wurde 1907 als Sohn eines Priesters im nordrussischen Wologda geboren. Ab 1924 studierte er Jura in Moskau, schloß Bekanntschaft mit Wladimir Majakowskij, schrieb erste Gedichte und wurde Mitglied einer oppositionellen Gruppierung, die Lenins legendäres Anti-Stalin Testament verbreitete. Anfang 1929 die erste Verhaftung, 1932 die Rückkehr nach Moskau, 1937 die zweite Verhaftung: Schalamow wurde zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt, seine Odyssee durch den Gulag des Kolymagebietes begann.
Schalamow schuftete in Goldbergwerken, er brach Kohle und fällte Holz. 1943 wurde er im Lager zu weiteren zehn Jahren verurteilt. Dann hatte er Glück: Er wurde im Lager zum Arzthelfer ausgebildet. Ein unerhörtes Privileg, das ein Leben und Überleben in beheizten Räumen gestattete. 1951 wurde Schalamow offiziell entlassen, 1956 kehrte er nach Moskau zurück. Fast 20 Jahre waren vergangen, die Arbeit an den „Erzählungen aus Kolyma“ hatte schon begonnen.

Die Logik des Lagers, der Alltag, die Regeln

Schalamows sechs Kolyma-Zyklen, aus denen hier jetzt eine erstklassige Auswahl vorliegt, sind eine veritable Enzyklopädie des Lebens und Sterbens an der Kolyma – so präzise, das selbst Historiker sie benutzen. Die Logik des Lagers und seine Hierarchien, Krankheiten und Überlebenstechniken, Kartenspiel und der Ehrenkodex von Häftlingen – Schalamow hat alles beschrieben, in kristallklarer, kalter Prosa.
Ein Geheimnis war die Existenz dieser Erzählungen seit den 60er Jahren nicht mehr. Doch an eine Publikation war, trotz aller Lockerungen nach Stalins Tod, nicht zu denken. Alexander Solschenizyn hatte das Gulag-Tabu 1961 mit „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ brechen können. Doch zwischen Schalamow und Solschenizyn lagen Welten.
Schalamows Perspektive widersprach nicht nur den Vorstellungen der kommunistischen Partei, sondern auch denen der russischen Intelligenzija und des westlichen Publikums. Sie alle hielten fest an humanistischen oder christlichen Idealen, die für Schalamow nach seinen Erfahrungen an der Kolyma lächerlich waren.

„Die Tragödie besteht darin, dass Menschen, die über Generationen an der humanistischen Literatur erzogen wurden, schon beim ersten Wurf bei Auschwitz, bei der Kolyma ankommen konnten. Das ist nicht nur ein russisches Rätsel, sondern offensichtlich ein Problem der ganzen Welt.“

Warlam Schalamow wusste, was er wollte. Er wusste, dass es schwer werden würde. Und er war zu keinerlei Kompromissen bereit. Die erste Erzählung im ersten der sechs Kolyma-Zyklen, jene kurze Skizze darüber, wie man einen Weg in tiefem Schnee bahnt  sie war auch ein Selbstportrait.
„Der erste hat es am schwersten, und wenn seine Kräfte erschöpft sind, geht ein anderer vom selben Fünfervortrupp voran. Von denen, die der Spur folgen, muß jeder, selbst der Kleinste und Schwächste, auf ein Stückchen unberührten Schnee treten, nicht in die fremden Fußspuren. Auf Traktoren und Pferden kommen nicht die Schriftsteller, sondern die Leser.“
Schalamows Spur durch die Welt der Kolyma zu folgen, ist ein Leseerlebnis ohne Gleichen.
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